Seit zehn Jahren spaltet Chinas Neue Seidenstraße Beobachter weltweit. Historiker Peter Frankopan mahnt, das Projekt auch aus Sicht des Globalen Südens zu betrachten.
Am 7. September vor zehn Jahren präsentierte Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping erstmals seine Idee einer Neuen Seidenstraße. Xi schwebte ein gigantisches Infrastrukturprojekt vor, quer durch Asien und entlang des historischen Handelsweges. Rund 150 Länder haben sich dem Programm seither angeschlossen, auch in anderen Weltregionen. Die Neue Seidenstraße soll China mit dem Rest der Welt verbinden, steht aber seit ihrem Start auch massiv in der Kritik. Der britische Historiker Peter Frankopan hat sich intensiv mit dem Vorhaben beschäftigt – und mit dem Vorbild der antiken Seidenstraße, die einst vom chinesischen Xi‘an bis zum Mittelmeer verlief. Im Interview plädiert Frankopan dafür, die Seidenstraße nicht nur aus westlicher Perspektive zu beurteilen, sondern unseren Horizont zu weiten.
Herr Frankopan, als Xi Jinping 2013 seine Idee der Neuen Seidenstraße vorgestellt hat, sprach er von wirtschaftlicher Zusammenarbeit zum Nutzen der gesamten Menschheit. Zehn Jahre später isoliert sich China immer mehr vom Rest der Welt, und auch der Westen geht auf Abstand zu China. Ist Xis Idee gescheitert?
Die Neue Seidenstraße wurde in die Verfassung der Kommunistischen Partei Chinas aufgenommen. Das bedeutet, dass sie uns noch eine ganze Weile beschäftigen wird. Und auch wenn die Finanzierung von vielen Seidenstraßen-Projekten vor etwa fünf Jahren fast zum Erliegen gekommen ist, bedeutet das nicht, dass die Idee der Seidenstraße gestorben ist. Spannender ist für mich an der Neuen Seidenstraße aber ohnehin etwas anders als die bloße Frage, ob und wie irgendwelche Projekte finanziert werden.
Und zwar?
Spannend finde ich die Art und Weise, wie China mit der Neuen Seidenstraße eine Erzählung präsentiert hat, um sowohl dem eigenen als auch dem internationalen Publikum eine gemeinsame Geschichte unserer Gegenwart und unserer Zukunft zu vermitteln. Die chinesische Botschaft, dass wir alle zusammenarbeiten sollten, mag im Westen nicht besonders gut ankommen, zumal sie mit einer starken Dosis anti-westlicher Gefühle vermengt wird. Aber sie findet in vielen anderen Teilen der Welt sehr wohl großen Anklang. Denke Sie an
den jüngsten Brics-Gipfel und die Bereitschaft vieler anderer Staaten und Volkswirtschaften, sich dem chinesischen Narrativ anzuschließen. Wir sollten also mehr darüber nachdenken, wie die Welt außerhalb des Westens aussieht.
Zur Person
Peter Frankopan zählt zu den bedeutendsten Historikern der Gegenwart. Er ist Professor für Globalgeschichte an der Universität Oxford sowie UNESCO Professor of Silk Roads Studies am King‘s College in Cambridge. Sein Buch „Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt“ wurde 2016 ein weltweiter Bestseller, drei Jahre später folgte „Die neuen Seidenstraßen“. Zuletzt veröffentlichte Frankopan „Zwischen Erde und Himmel und Erde: Klima – eine Menschheitsgeschichte“.
„Es gab einige sehr prominente, katastrophale Projekte im Zusammenhang mit der Neuen Seidenstraße“
China bezieht sich mit der Neuen Seidenstraße auf die historischen Seidenstraßen, die für einen Austausch von Ideen und Kulturen standen. Davon merkt man derzeit wenig.
Viele stellen sich die historischen Seidenstraßen als einen Mechanismus des friedlichen Austauschs und des geteilten Glücks vor. Das ist nicht ganz falsch. Aber dieselben Netzwerke, die einst Händler, Waren und Ideen zusammenbrachten, verbreiteten auch Gewalt, neue Technologien und Krankheiten.
Einer der am häufigsten vorgetragenen Kritikpunkte an Chinas Seidenstraßeninitiative ist, dass sie ärmere Staaten in die Schuldenfalle führe.
Es gab einige sehr prominente, katastrophale Projekte im Zusammenhang mit der Neuen Seidenstraße, etwa den Hafen von Hambantota in Sri Lanka oder ein Eisenbahnprojekt in Ostafrika, das die Küste mit dem Landesinneren verbindet. Diese Projekte haben zu Recht viel Aufmerksamkeit erregt. Aber sie sind eher die Ausnahme als die Regel. Viele Seidenstraßen-Projekte sind gut gelaufen – und waren gut für die Gemeinschaften vor Ort. Für Projekte, die in Schieflage geraten sind, hat sich China in vielen Fällen zudem als besserer Kreditgeber als westliche oder multilaterale Partner erwiesen, indem es Schulden großzügiger erlassen oder umstrukturiert hat.
Wie blickt man im Globalen Süden auf die Seidenstraße?
Einige meiner Kollegen in Entwicklungsländern merken oft – und manchmal auch verärgert – an, dass Politiker in vielen armen Staaten durchaus in der Lage seien, Risiken zu verstehen und Schulden zu verwalten. Die Vorstellung, dass sie irgendwie von China ausgetrickst oder durch Bestechungsgelder gelockt wurden, sagt viel darüber aus, wie wir im Westen auf Weltgegenden außerhalb Europas blicken. Außerdem wird damit der Eindruck erweckt, dass wir die „Guten“ sind, die andere retten können, indem wir sie vor der Bedrohung durch China warnen – ohne selbst etwas zu tun, um die Entwicklung voranzutreiben.
„Es wäre verrückt zu glauben, dass Staaten nicht immer auch geopolitische Motive verfolgen“
Ist unser Blick auf die Welt wirklich derart eingeschränkt?
Fragen Sie irgendeinen deutschen Politiker, Wirtschaftsführer oder NGO-Vorstand nach chinesischen Krediten an Afrika, und ich wette mit Ihnen um ein Bier auf dem Oktoberfest, dass fast alle schätzen würden, dass der Großteil der Staatsschulden jedes afrikanischen Staates bei China liegt. Nimmt man alle 54 Länder Afrikas zusammen, dann liegt der Durchschnitt der Schulden bei China aber nur bei etwa zwölf Prozent. Wir in Europa sind ahnungslos, wenn wir über andere Teile der Welt nachdenken.
Also halten Sie auch nichts von der Behauptung, China gehe es vor allem um Geopolitik, wenn es im Ausland in kritische Infrastruktur wie etwa Häfen investiert?
Nennen Sie mich altmodisch, aber ist das nicht das Ziel von Außenpolitik? Sollten Staaten wie Deutschland an weit entfernten Orten investieren, die keinen strategischen Wert für sie haben? Es wäre verrückt zu glauben, dass Staaten nicht immer auch geopolitische Motive verfolgen. Ich denke, die Frage, die wir uns stellen sollten, müsste eher lauten: Sollten wir uns durch ein China bedroht fühlen, das Interessen in Regionen und an Orten von strategischer Bedeutung verfolgt? Die Antwort lautet natürlich: Ja. Aber wir müssen etwas dagegen tun, anstatt uns darüber zu beschweren, dass Konkurrenten, Rivalen und Gleichgestellte einen Plan haben und wir nicht.
Wie könnte dieser aussehen?
Zunächst: Das Ansehen des Westens ist überall auf der Welt, auch in Asien und weit darüber hinaus, sehr hoch. Nur wenige Menschen machen sich Illusionen über die Vorteile von Partnerschaften und Kooperationen mit Ländern wie Russland oder dem Iran; und in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Nord- und Südamerikas gibt es eine Menge Widerstände gegen Einwanderung aus China.
„Wir sollten nicht versuchen, China in anderen Teilen der Welt ‚entgegenzuwirken‘“
Was folgt daraus für uns?
Wir sollten nicht versuchen, China in anderen Teilen der Welt „entgegenzuwirken“. Wir sollten Ländern mit niedrigem Einkommen zuhören, welche Art von Hilfe und Unterstützung sie wollen und brauchen. Darin sind wir nicht sehr gut. Wir versprechen oft viel und halten wenig; wir machen uns nicht die Mühe, etwas über die Geschichte anderer Völker zu erfahren oder sie mit Respekt zu behandeln; wir gehen davon aus, dass alle so sein wollen wie wir, ohne zu überlegen, ob unsere eigenen sozialen, wirtschaftlichen, politischen oder ökologischen Modelle verbessert werden können und sollten.
Haben Sie ein Beispiel?
Wir haben uns während der Pandemie furchtbar verhalten, weil wir den Markt für Impfstoffe in Europa für uns beansprucht haben, anstatt zu einer gleichmäßigen Verteilung beizutragen. Und wir haben uns letztes und dieses Jahr furchtbar verhalten, indem wir zuviel Flüssiggas gelagert haben, um unsere eigenen Preise auf Kosten einiger der ärmsten Menschen der Welt zu senken. Das sind Dinge, die vor Ort zur Kenntnis genommen und von unseren Rivalen und Konkurrenten aufgegriffen werden, um eine Erzählung über den Westen zu verbreiten, die auf fruchtbaren Boden fällt. Wir sollten mit unseren Taten und nicht mit unseren Worten vorangehen.
Wenn Sie 85 Prozent der Weltbevölkerung in Klassenzimmern und Geschichtsbüchern ignorieren, dann hat das Konsequenzen. Wir sind sehr gut darin, unser eigenes Spiegelbild zu bewundern – und auch darin, das zu sehen, was wir sehen wollen. Was mich interessiert, ist die Realität! Der preußische Historiker Leopold von Ranke hat uns völlig zu Recht ermahnt: Vermeidet Trugbilder und konzentriert euch auf das, was wirklich passiert!