Analyse
Mann verhungerte: Ex-Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs wirft Aserbaidschan Genozid vor
Aserbaidschan blockiert seit Monaten die einzige Verbindungsstraße von Armenien nach Bergkarabach. Ein Mann soll infolgedessen verhungert sein.
Keine Medizin, keine Babynahrung, kein Mehl, kein Treibstoff, zeitweise kein Strom: Videos und Augenzeugenberichte belegen, wie katastrophal die humanitäre Lage in der de-facto unabhängigen Region Bergkarabach ist. Seit Dezember blockiert Aserbaidschan den Latschin-Korridor für den regulären Personen- und Warenverkehr.
Seit dem 15. Juni dürfen nicht einmal mehr Hilfskonvois des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und der russischen Friedenstruppen die dringend benötigten Güter zu den rund 120.000 ethnischen Armeniern bringen. Mindestens eine Person sei infolge von Mangelernährung bereits gestorben, berichten armenische Medien.
Luis Moreno Ocampo, von 2003 bis 2012 Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, legte in einem Anfang August erschienenen Bericht dar, warum die Blockade und ihre Folgen die Kriterien eines Völkermordesnach Artikel II c) der UN-Völkermordkonvention erfülle. Es ist das erste Mal, dass ein hochrangiger internationaler Experte die Aktivität Aserbaidschans explizit als Genozid bezeichnet.
„Es gibt vernünftige Gründe für die Annahme, dass [Aserbaidschans] Präsident Alijev genozidiale Absichten hegt: Er hat den Latschin-Korridor wissentlich, willentlich und freiwillig blockiert, selbst nachdem er über die Folgen seines Handelns durch die vorläufige Anordnung des Internationalen Gerichtshofs aufgeklärt wurde“, heißt es in dem 28-seitigen Bericht. Der Internationale Gerichtshof hat Aserbaidschan zweimal rechtlich bindend aufgefordert, die Blockade aufzuheben.
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Diese Analyse liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Security.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte sie Security.Table am 22. August 2023.
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Hebestreit zu Genozid: „Kampfbegriffe gehören nicht hierher“
Auf Table.Media-Anfrage erklärte Ocampo: „Ich will meinen Beitrag leisten, um die Leugnung des Genozids zu verhindern. Die Verantwortung liegt nun bei den 153 Vertragsstaaten der Völkermordkonvention, darunter auch Deutschland. Sie haben die Pflicht, den Völkermord zu verhindern.“
Die Bundesregierung und das Auswärtige Amt (AA) zeigen sich „besorgt“ über die instabile Lage. „Die Bundesregierung unterstützt und beteiligt sich an den vom Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, initiierten trilateralen Friedensgesprächen und begrüßt auch entsprechende Initiativen der USA“, sagte eine Sprecherin des AA auf Anfrage. Konkrete Schritte seien die Unterstützung des Roten Kreuzes vor Ort sowie der EU-Mission in Armenien (EUMA).
Die Blockade als Genozid zu bezeichnen, geht Regierungssprecher Steffen Hebestreit allerdings zu weit: In der gestrigen Bundespressekonferenz sagte er vor Journalisten: „Das sind Kampfbegriffe, die aus meiner Sicht nicht hierhergehören.“
Verstoß gegen Waffenstillstandsabkommen
Armenien und Aserbaidschan streiten seit Jahrzehnten um die Region. 2020 kam es zu einem Krieg, der am 9. November mit einem von Russland vermittelten Waffenstillstandsabkommen endete. Hauptstreitpunkt ist der Status der Menschen in Bergkarabach. Nach anhaltender Bedrohungsrhetorik vonseiten Aserbaidschans hat Armeniens Präsident Nikol Paschinyan im April Bereitschaft signalisiert, Bergkarabach an Aserbaidschan abzugeben, unter der Bedingung, dass die Menschen Minderheitenrechte bekommen.
In dem Abkommen wurde auch die Offenhaltung des Latschin-Korridors vereinbart. Aliyev rechtfertigt die Notwendigkeit der Einrichtung von Checkpoints an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze mit dem illegalen Waffenschmuggel Armeniens nach Bergkarabach. Armenien bestreitet diese Vorwürfe.
Auch verweist Aserbaidschan auf eine neu gebaute Straße über Aghdam Richtung Baku, die offen stünde. Die Bewohner Bergkarabachs befürchten allerdings, dass sie nicht mehr in ihre Häuser zurückkehren dürfen, wenn sie ihre Heimat Richtung Baku verlassen, es sei denn, sie nähmen die aserbaidschanische Staatsbürgerschaft an. Nach und nach wolle Aliyev so die ethnischen Armenier vernichten, so die Interpretation Armeniens.
UN-Sicherheitsrat tagt ohne Resolution
Druck auf Aliyev kommt inzwischen sogar von engen Verbündeten wie Israel und der Türkei, beides Waffenlieferanten Aserbaidschans. Die USA, die eine aktive Vermittlerrolle einnehmen, zögern angesichts der Vorwürfe eines Genozids die Erneuerung eines langjährigen Militärhilfeprogramms für Baku hinaus.
Bei einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates am Mittwoch haben die USA, Frankreich, Russland, die EU und andere Staaten Aserbaidschan aufgefordert, die Blockade des Latschin-Korridors aufzuheben. Die Sitzung endete jedoch ohne eine Resolution.
Narek Sukiasyan, Politologe bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Armenien, zeigt sich enttäuscht. „Wenn die Möglichkeit des UN-Sicherheitsrates ausgeschöpft ist, was bleibt dann noch?“ Die nationalen Interessen des Westens – viele Länder der EU, darunter Deutschland, beziehen günstiges Gas und Wasserstoff aus Aserbaidschan – stünden weiterhin über den Menschen in Bergkarabach.
Friedensverhandlungen stocken
„Aserbaidschan schafft mit den Eskalationen immer neue Krisen und bringt die Friedensverhandlungen der vergangen Monate zum Erliegen“, sagt Sukiasyan. Selbst wenn Aliyev in Kürze die Blockade des Latschin-Korridors aufheben würde, wären damit die grundsätzlichen Probleme, nämlich der Frieden zwischen den beiden Ländern und die Rechte der Menschen in Bergkarabach, nicht geklärt.
Fast zur Randnotiz geworden ist, dass am vergangenen Dienstag eine Patrouille der unbewaffneten EU-Beobachtermission in Armenien gemeldet hatte, dass etwa einen Kilometer von der Patrouille entfernt vier bis fünf Schüsse abgefeuert worden seien. „Obwohl es nicht möglich war, das Ziel der Schüsse zu bestimmen, traf die Patrouille die notwendigen Schutzmaßnahmen und verließ das Gebiet“, sagte eine Sprecherin der EUMA auf Table.Media-Anfrage.
Die EUMA hatte den Vorfall per X (vormals Twitter) zuerst dementiert, musste dann aber aufgrund eines geleakten Videos doch zugeben, dass die EUMA-Beamten „bei dem Schießerei-Vorfall anwesend waren.“ Verletzt wurde niemand.