Europa und China sind in einer neuen Phase ihrer Zusammenarbeit angekommen. Das bedeutet das für die EU.
Mehr als drei Jahrzehnte war Gunnar Wiegand für die Europäische Union tätig, zuletzt als Leiter der Asienabteilung des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EEAS). Im Gespräch mit Amelie Richter blickt er zurück auf Erfolge und Rückschläge der EU-Politik für China und Asien: So sei der Dreiklang „Partner, Wettbewerber, Systemrivale“ eine Weiterentwicklung der EU-China-Politik gewesen. Ein Problem sieht er bei den europäischen Entscheidungswegen
Herr Wiegand, nach gut zwölf Jahren endet Ihre Zeit beim EEAS. Sie waren insgesamt mehr als 30 Jahre für die EU tätig. Wie lautet Ihre persönliche Bilanz zu den EU-China-Beziehungen und den EU-Asien-Beziehungen?
Früher wurden Fragen und Herausforderungen im weiten Asienpazifikraum sowie die Möglichkeiten, die es dort gibt, nur von Experten erkannt und als wichtiger Bereich der Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik anerkannt. Oder von Personen, die mit der Region handeln oder mit Investitionen in dem Bereich zu tun hatten. Das betraf auch globale Herausforderungen wie Klima, Energie und Umwelt. Das ist nun anders: Europa hat erkannt, dass es ein globaler Akteur sein muss und dass in der Region ganz wichtige Dinge entschieden werden, die uns direkt betreffen und für unseren globalen Zusammenhalt von großer Bedeutung sind.
Was hieß das konkret für Ihre Asien-Abteilung?
Ich bin sehr froh, dass wir die China-Politik in diesen Jahren erheblich weiterentwickelt haben. Wir haben aber auch eine klare Indienpolitik, die Beziehungen mit Japan und Korea haben eine neue Qualität und mit Asean konnten wir eine strategische Partnerschaft etablieren. Europa ist in allen wichtigen Politikbereichen sehr viel aktiver geworden. Und unsere Mitgliedsstaaten sehen das individuell auch so. Das beste Beispiel ist die vor kurzem vorgestellte China-Strategie und die nationale Sicherheitsstrategie Deutschlands. Europa hat die Reife erlangt, global zu denken, aber sich auch global aufzustellen und zu handeln.
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Dieses Interview liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem China.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte es China.Table am 13. August 2023.
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Die Idee, dass sich die EU als geopolitischer Player sieht und auch etablieren möchte, hat EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen mit Nachdruck betont. Wurde in dieser Hinsicht schon genug getan?
Als Jean-Claude Juncker kam und Präsident wurde, sagte er: „Ich werde Präsident einer politischen Europäischen Kommission sein.“ Da haben schon viele die Augenbrauen nach oben gezogen. Dann kam Ursula von der Leyen und sagte: „Ich werde Präsidentin einer geopolitischen Europäischen Kommission sein.“ Ich glaube, das drückt genau aus, in welche Richtung sich Europa jetzt aufstellen muss. Wir müssen Dinge in einem globalen Zusammenhang sehen und mit langfristiger Wirkung handeln können.
Was läuft dabei nicht so gut?
Ein Problem ist, dass unsere komplizierten europäischen Entscheidungsstrukturen und die Art und Weise, wie wir miteinander zu Ergebnissen kommen, auf dem Willen zur innereuropäischen Integration aufgebaut sind, die das Erbe der zahllosen europäischen Kriege, Bürgerkriege und Diktaturen erfolgreich überwunden haben, mit dem Instrumentarium, das uns die Gründungsväter der EU gegeben haben. Wir müssen uns jetzt aber so aufstellen, dass wir mit einer globalen Sichtweise schnell und mit langfristiger Wirkung handeln können. Wir müssen Herausforderungen eines multipolaren Wettbewerbs angehen. Und die Europäische Union, die erklärtermaßen eine multilaterale Union ist, kann darin vielleicht nicht so schnell und so konsequent agieren, wie das einige Nationalstaaten tun. Das ist eine wichtige Herausforderung für die nächsten Jahre, die man berücksichtigen muss und die dann hoffentlich zu Veränderungen in unserem institutionellen Aufbau und in der Entscheidungsfindung führen wird, spätestens aus Anlass der nächsten Erweiterungsrunde.
Wie sieht Ihr Rückblick auf die Beziehungen zu China aus?
Unser Realismus in der Analyse ist deutlich stärker geworden. Man sieht nicht nur die zahllosen Möglichkeiten, die unsere Firmen, auch viele Bürger, mit der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung Chinas über die letzten Jahrzehnte haben nutzen können. Die entscheidende Veränderung im Umgang der EU mit China ist 2019 passiert. Hier wurde China als Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale kategorisiert. In der Zwischenzeit haben wir auch gesehen, dass man innerhalb einzelner Politikbereiche oftmals auch entsprechend differenzieren können muss. Dieser Dreiklang ist wiederholt vom Europäischen Rat bestätigt worden, zuletzt im Juni dieses Jahres. Er ist ein föderatives Element, um alle unsere Mitgliedsstaaten zusammenzubringen. Und es ist wichtig, dass wir uns dahinter versammeln und uns alle damit identifizieren können, auch wenn vielleicht der eine Mitgliedsstaat den Schwerpunkt mehr in diese und der andere in jene Richtung legt.
Wie hat sich die Einteilung denn konkret ausgewirkt?
Wir konnten eine ganze Reihe von konkreten legislativen Projekten in Gang oder zur Verabschiedung bringen. Die Beispiele reichen vom International Procurement Instrument für das Beschaffungswesen bis zum Inbound Investmentscreening, zum Lieferkettengesetz oder dem Anti-Coercion-Instrument. Alles konkrete Schritte vorwärts, um Europa im Wettbewerb auch mit China besser aufzustellen, was Reziprozität und Level playing Field angeht, unter Nutzung der Möglichkeiten des EU-Binnenmarktes und der Handelspolitik.
Auf der Partner-Seite wurde aus dem CAI allerdings nichts.
Ich werde Ihnen nicht verschweigen, dass das ein erheblicher Rückschlag war. Dass China es als notwendig ansah, auf die individuelle und gezielte Sanktionierung von vier Verantwortlichen und einem Unternehmen in Xinjiang für Menschenrechtsverletzungen mit massiven, grundlosen und unverhältnismäßigen Gegensanktionen zu reagieren, war natürlich ausgesprochen kontraproduktiv. Damit verschwand aber auch die letzte Illusion, die der eine oder andere noch hatte, dass man mit Kooperation alles regeln kann. Ich glaube, wir sind jetzt in einer sehr realistischen Phase angelangt.
Was sind für Sie die bestimmenden Punkte, die die künftige Beziehung zu China beeinflussen werden?
Zum einen die Frage, wie sich China gegenüber Russland positioniert. Wir erwarten sehr viel mehr von dem ständigen UN-Sicherheitsratsmitglied China, um zum Ende des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine auf Grundlage der UN-Charta beizutragen. Zweitens haben wir die wichtige Positionierung Europas, was Taiwan angeht: Beibehaltung des Status quo und keine Verschärfung von Spannungen. Wir sind in einem kritischen und sehr intensiven Austausch mit der chinesischen Seite dazu. Es gilt, alles zu tun, um Frieden und Stabilität in dieser für Europa und die Welt so wichtigen Region zu bewahren. Und drittens, der Punkt, den Frau von der Leyen in ihrer Rede im März und beim Besuch in Peking im April besonders hervorgehoben hat: De-Risking ja und nicht wirtschaftliches Decoupling, also die bewusste Verringerung von einseitigen, kritischen Abhängigkeiten. Es gibt immer mehr wichtige Rohstoffe und Produkte, für welche China zunehmend quasi eine Monopolstellung einnimmt. Hier werden die Firmen natürlich einen wichtigen, eigenen Beitrag leisten müssen.
Gunnar Wiegand war von Januar 2016 bis August 2023 Leiter der Asienabteilung beim Europäischen Auswärtigen Dienst (EEAS). Zuvor war er stellvertretender Leiter für die Abteilung Europa und Zentralasien sowie Direktor der Abteilung für Russland, Östliche Partnerschaft, Zentralasien und OSZE beim EEAS. Vor seinem Eintritt beim EEAS war Wiegand seit 1990 in verschiedenen Funktionen im Zusammenhang mit Außenbeziehungen und Handelspolitik bei der Europäischen Kommission tätig.
Wiegand wird nach der Sommerpause Visiting Professor am College of Europe im belgischen Brügge. Er wird dort Teil des Departments für EU International Relations and Diplomacy Studies.