Machtverhältnisse in Zentralasien
„Traue Russland genauso viel wie dem Westen“: Erdogan reizt Putin und hilft ihm zugleich
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan verändert die Machtverhältnisse in Zentralasien und schwächt damit Russland.
Mit großem Selbstbewusstsein, aber ebenso großer Vorsicht hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine sein Verhältnis zum Kreml-Chef Wladimir Putin und die Beziehung der Türkei zu Russland entwickelt – als komplexe Schaukelpolitik zwischen den Großmächten. „Im derzeitigen Moment traue ich Russland genauso viel wie dem Westen“, sagte Erdoğan in einem denkwürdigen Interview mit der US-amerikanischen TV-Senderkette PBS im September. Der Nato-Staat Türkei ist ein paradoxer „Freund“ Russlands. Außenpolitisch kooperieren beide Länder, wo es möglich ist, bekämpfen sich aber militärisch auf verschiedenen Kriegsschauplätzen mit unterschiedlicher Intensität: in Syrien, in Libyen, im Kaukasus.
Infolge des Gaza-Kriegs hat Erdoğan nach einer Periode des Austestens roter Linien Putins derzeit wieder zu einem geopolitischen Gleichklang mit dem großen Nachbarn gefunden. Den israelisch-palästinensischen Konflikt instrumentalisieren beide Autokraten: Sie positionieren sich gegen Israel und den Westen und intensivieren gleichzeitig ihre eigenen Kriege – Russland in der Ukraine, die Türkei in Nordsyrien (Rojava).
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Machtverschiebungen zugunsten Ankaras
Erdogan kommt zugute, dass Russland durch den seinen Krieg gebunden und geschwächt ist. Im Südkaukasus hat die Türkei spätestens seit dem Bergkarabach-Krieg vom September jene Vormachtrolle übernommen, die Russland bisher innehatte. Auch in Zentralasien profitiert Ankara von der Schwäche Moskau und verstärkt die geopolitische Rivalität mit dem Nachbarn, um die Beziehungen mit den Staaten Zentralasiens, die ihre Abhängigkeit von Russland reduzieren wollen, auszubauen.
Vor allem auf dem ukrainischen Schauplatz nutzt Erdoğan jede Schwäche Putins für machtpolitische und ökonomische Gewinne. Der Ukraine schickte Erdoğan gleich zu Beginn des Krieges militärische Bayraktar-Drohnen, die wesentlich zur erfolgreichen Abwehr der russischen Angriffe beitrugen. Erdoğan sperrte den Bosporus für russische (und andere) Kriegsschiffe und forderte mehrfach die Rückgabe der Krim an die Ukraine. Zudem ist die Türkei stark im risikoreichen Handel mit ukrainischem Getreide engagiert. Nach dem einseitigen russischen Ausstieg aus dem Schwarzmeer-Getreideabkommen im Juli ließ Putin zwar Mitte August einen türkischen Frachter auf dem Weg zum ukrainischen Getreidehafen Ismajil mit Warnschüssen stoppen, die Lieferungen gingen trotzdem weiter.
Türkei und Zentralasien helfen, Sanktionen zu umgehen
Putin lässt Erdoğan notgedrungen gewähren, weil er letztlich von der Partnerschaft profitiert. Trotz ihrer Nato-Mitgliedschaft spielt die Türkei eine Schlüsselrolle beim Unterlaufen der westlichen Russland-Sanktionen, denen sie sich ausdrücklich nicht angeschlossen hat. Der Sanktionsbruch durch türkische Unternehmen ist spätestens seit Anfang September aktenkundig. Zu dem Zeitpunkt belegten die USA fünf führende türkische Handelsfirmen wegen der Ausfuhr militärisch verwendbarer Komponenten für Drohnen und Sensortechnik nach Russland mit Sanktionen.
Danach blockierte die Türkei zwar den Transit sanktionierter Waren ins Nachbarland, doch werden die türkischen Exporte lebenswichtiger High-Tech-Güter für Russlands Kriegsmaschine jetzt offenkundig über Lieferketten im Kaukausus und Zentralasien verschoben, wie die britische Financial Times jüngst berichtete. Laut dem Bericht werden „hochprioritäre“ Komponenten für die Rüstungsindustrie über den Umweg der ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan verdeckt nach Russland geliefert. Sie beträfen 45 Warenkategorien wie Mikrochips, Kommunikationsgeräte oder Zielfernrohre. Das Volumen dieses Handels ist sprunghaft angestiegen und hat westliche Besorgnis deutlich verstärkt.
Washington hat daher den politischen Druck auf Ankara noch einmal erhöht, um die fortgesetzte Obstruktion der Nato-Politik durch türkische Firmen zu unterbinden. Der stellvertretende US-Außenminister James O‘Brien warnte Ankara vor zwei Wochen öffentlich, die westlichen Staaten wollten nicht, „dass einer unserer wichtigsten Partner zu einem Ort wird, an dem unsere Sanktionen umgangen werden“. Das türkische Außenministerium konterte wachsweich, es werde alles getan, um Sanktionsumgehungen zu verhindern, doch gebe es leider solche „Versuche“ durch „obskure Unternehmen“.
Dazu erklärten Türkeiexperten auf einer internationalen Tagung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Nikosia im November, mit der Tolerierung des „Geisterhandels“ sanktionierter Waren revanchiere sich Erdoğan auch für die massive Unterstützung Putins bei den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai. Damals habe sich Putin erstmals offen in Türkei-Wahlen eingemischt, indem er türkische Gas-Schulden in Höhe mehrerer hundert Millionen Dollar stundete und Erdoğan damit ermöglichte, seiner Wählerschaft kostenlose Gaslieferungen zu versprechen. Diese Intervention habe das ohnehin asymmetrische Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Autokraten zugunsten Putins weiter verstärkt.
Erdoğan hat Türkeis Abhängigkeit von Russland vergrößert
Der türkische Präsident hat ohnehin aus den Verwerfungen seit November 2015 seine Schlüsse gezogen, als die türkische Luftverteidigung ein russisches Flugzeug abschoss, das aus Syrien kommend in den türkischen Luftraum eingedrungen war. Russland verhängte Sanktionen gegen die Türkei; Erdoğan sah sich zu einer demütigenden Entschuldigung bei Putin gezwungen. Anschließend bestellte Ankara für zwei Milliarden Dollar russische S-400-Flugabwehrraketen und lässt Russland seit 2018 in der Südtürkei das Atomkraftwerk Akkuyu errichten, das die türkische Opposition als russische Basis mitten in der Türkei kritisiert.
Russland gab seinerseits grünes Licht für militärische Operationen der Türkei im Norden Syriens und nahm den Bau der Pipeline TurkStream wieder auf, durch die seit Januar 2020 russisches Gas in die Türkei fließt. Die stark gewachsene energiepolitische Abhängigkeit der Türkei von Russland hat Putin enormes Erpressungspotential in die Hände gespielt. Derzeit plant Moskau die Errichtung eines Erdgasknotenpunktes in der Türkei, um offenkundig russisches Gas für den Export in die EU zu türkischem Gas weißzuwaschen.
Der Handel mit Russland floriert
Das Handelsvolumen zwischen Russland und der Türkei hat sich seit Beginn des Ukraine-Kriegs stark erhöht und wird in diesem Jahr voraussichtlich 65 Milliarden US-Dollar übersteigen. Im vergangenen Jahr war Russland erstmals der wichtigste Importpartner der Türkei mit Waren im Wert von 58,85 Milliarden Dollar, eine Verdreifachung gegenüber 2021.
Trotzdem bleibt Erdoğan wegen seines Bestrebens nach „strategischer Autonomie“ für Putin ein unberechenbares Risiko. Zumal der türkische Präsident Pragmatiker genug ist, um seine Nato-Partnerschaft nicht zu gefährden und Signale der Kulanz an den Westen zu senden, von dem die Türkei wegen ihrer gewaltigen finanziellen und wirtschaftlichen Probleme mehr denn je abhängt. So leitete er im November die Gesetzesvorlage zum schwedischen Nato-Beitritt endlich zur Ratifizierung ans Parlament in Ankara weiter. Trotzdem dürfte die Zustimmung dazu noch auf sich warten lassen. Erdoğan will für das Okay 40 F-16-Kampfjets und 40 Eurofighter von den Nato-Partnern haben.