Analyse
Unübersichtlich: So verschwenden Bund und Länder 1,5 Milliarden Euro mit Lernplattformen
Rund 1,5 Milliarden Euro fließen in den Versuch von Bund und Ländern, funktionierende digitale Lernplattformen für Schulen einzuführen.
Diese Analyse liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Bildung.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn Bildung.Table am 21. Juni 2023.
Die Projekte sind nicht nur teuer und unübersichtlich – manche hängen aus einem anderen Grund am seidenen Faden.
Die Präsidentin der Kultusminister bestand gerade im Table.Media-Interview darauf, schnell einen Nachfolger für den „Digitalpakt 1“ zu vereinbaren. Aber während Katharina Günther-Wünsch (CDU) bereits neues Geld verlangt, gehört auch das Gremium, dem sie vorsitzt, zu den Verzögerern und Verschwendern. Das zeigt eine Table.Media-Recherche über die Ausgaben für digitale Tools. Bund und Länder geben in einer Vielzahl von Projekten Geld für Lernplattformen und virtuelle Klassenzimmer aus – oft ohne einen klaren Überblick zu haben. Die Recherche zeigt, dass der Staat digitale Infrastrukturen, Schulclouds und Lernportale im Wert von rund 1,5 Milliarden Euro vorantreibt. Aber zu den Digital-Profis am Markt gelangt das Geld eher tröpfchenweise.
Ein Bericht von Table.Media über ein millionenschweres Intelligentes Tutorielles System, das professionelle EdTechs bauen sollen, hat viele Nachfragen erzeugt. Sind die Mittel schon ausgeschrieben? Wo kann man sich bewerben? Gleichzeitig wurde die Gretchenfrage aufgeworfen: Wie viele der Projekte programmiert der Staat selbst, wie viele lässt er erstellen – und wie professionell macht er das eigentlich?
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Der Staat programmiert seltener selbst
Lange hatte der Staat in Gestalt der Kultusminister und des Bundes Distanz zu den EdTechs gehalten. Selbst in der Pandemie weigerten sich Bund und Länder, die mit Lernmanagementsystemen (LMS), Lernplattformen und Applikationen erfahrenen Anbieter für Schulen auch nur um Rat zu fragen. Das scheint sich nun zu ändern. Wie berichtet, haben sich acht Länder unter Führung Sachsens zusammengetan, um eine smarte Lernwolke bei einem etablierten Anbieter einzukaufen. Angepeilte Investition: 55 Millionen Euro. Ein weiteres, ganz ähnliches Projekt wird ebenfalls von acht Bundesländern vorangetrieben – dort geht es um eine von Profis erstellte „Adaptive Learning Cloud“. Diesmal hat Hamburg die Federführung. Das Beispiel zeigt: Es gibt Dopplungen und Überschneidungen. Transparenz sieht anders aus.
Betrachtet man den Bund als wichtigsten Nettozahler für digitale Projekte, so sieht man: Der Staat investiert geradezu schwindelerregende Beträge in digitale Projekte, deren Einmaligkeit sich manchmal selbst auf den zweiten Blick nicht erschließt. Insgesamt fließen rund zehn Milliarden Euro in die großen Vorzeigeprojekte vom Digitalpakt Schule über die Bildungsplattform bis hin zu den Lernwolken der Länder. Eine Liste nur dieser Lernplattformen summiert sich auf rund 1,5 Milliarden Euro.
Doppelt und dreifach: der Himmel voller Lernwolken
- 630 Mio. Euro: An der Spitze steht der Bund, der 630 Millionen Euro für die „Nationale Bildungsplattform“ ausgibt. Kernstück dieser digitalen Infrastruktur soll eine Zeugnis-Wallet und ein Single-Sign-On (SSO) sein. Letzteres soll allen Lernenden vom Kindergarten bis zur Volkshochschule ermöglichen, über ein einziges Login auf alle möglichen pädagogischen Funktionen zuzugreifen. Allerdings bauen die Länder seit längerem an einem SSO, das unter dem Namen Vidis längst im Probebetrieb läuft. Kein Wunder: Der Bund hat bisher offenbar ohne Beteiligung der Länder gehandelt. Der Tagesspiegel Background Digitalisierung berichtete, die Länder wollten das teure Projekt ignorieren. Table.Media zeigte, dass die Länder bisher noch kein Gesprächsangebot des Bundes kennen, welche Struktur die neue Plattform haben soll.
- 232,7 Mio. Euro: Die Länder organisieren ihrerseits Projekte im Wert von einer Viertelmilliarde Euro. (Siehe Grafik) Entweder schalten sie dabei das sogenannte Medieninstitut der Länder ein, das FWU in München. Oder sie organisieren das Vorhaben selbst. Dazu gehört etwa das Intelligente Tutorielle System im Wert von 55 Millionen Euro. Aber auch die – angeblich fertige – Schulcloud aus den Programmier-Laboren des Hasso-Plattner-Instituts bekommt weitere 36 Mio. Euro. Die Ausgaben für itslearning (ein LMS) summieren sich auf 12,6 Mio. Euro. Die erwähnte Adaptive Learning Cloud ist mit 5,7 Mio. Euro ziemlich günstig. Hinzu kommen noch 35 Millionen Euro für eine „Pädagogische Cloudinfrastruktur“. Bezahlt werden diese und weitere 20 länderübergreifende Projekte übrigens zu 90 Prozent vom Bund.
- 700 Mio. Euro: Einzelne Bundesländer stecken je Hunderte Millionen Euro in den Aufbau digitaler Infrastrukturen. So investiert Nordrhein-Westfalen 200 Millionen Euro in den nächsten fünf Jahren. In Bayern ist nicht ganz klar, wie hoch die Ausgaben für die BayernCloud Schule sind - die Zahlen variieren zwischen 87 und 335 Millionen Euro, manchmal teilt das Ministerium sogar den Betrag von einer Milliarde Euro mit. Unsere Recherchen sagen: es dürften 335 Millionen Euro sein. Baden-Württemberg investiert in seine komplexe Lernplattform 144 Millionen Euro.
Kompetenz von Verlagen und EdTechs, Geld vom Staat
In den Reihen der digitalen Bildungsanbieter und auch der Schulbuchverlage schüttelt man über solche Beträge ungläubig den Kopf. So können Verlage, vorneweg die Marktführer Klett, Cornelsen und Westermann, aus einem Etat von 450 Millionen Euro pro Jahr schöpfen. Er bleibt seit vielen Jahren konstant. Für digitale Anbieter und EdTechs gibt es (bislang) überhaupt kein definierbares Budget. Die eigentlichen Profis digitaler Bildung haben allenfalls kurzfristig während der Pandemie Aufträge bekommen. Oder sie griffen nach ein paar Brosamen vom 630-Millionen-Füllhorn des Bundes für die Nationale Bildungsplattform. Das Geld stammt übrigens aus EU-Töpfen.
Betrachtet man die einzelnen Projekte genauer, ist interessant, wie der Staat als Schöpfer digitaler Tools vorgeht. Zum Beispiel hat das Medieninstitut der Länder (FWU) kürzlich einen Fragebogen an verschiedene Wettbewerber verschickt, der Table.Media vorliegt. In diesem sollen die Anbieter ihre Fähigkeit zur Gestaltung digitaler Plattformen belegen sowie ihre technologischen Besonderheiten und Geschäftspartner auflisten. Letzte Frage des Bogens: „Sofern Sie KI einsetzen: Welche Formen von KI setzen Sie ein? (Deep Learning, Machine Learning, Learning Analytics etc.)“
EdTechs wollen Bund und Länder nicht aufschlauen
Allerdings wirft die Kompetenz derjenigen, die den Fragebogen verschicken, durchaus Fragen auf. Einer der Projektmanager für die adaptive Lernwolke unter Führung Hamburgs sagte, er müsse sich ins Thema „erstmal hineinfuchsen“. Bisher habe er sich mit ganz anderen Fragen befasst. Die digitalen Bildungsanbieter reagieren darauf reserviert. „Ich habe doch nicht zehn Jahre lang Geld, Zeit und Engagement investiert, um jetzt Neulinge vom Staat mit meinem Wissen aufzuschlauen.“ So äußert sich einer der Befragten, der seinen Namen nicht in einer Veröffentlichung lesen will. Zurecht – weil jene, die sich offen äußern, mit Nichtbeachtung rechnen müssen.
Der Staat weiß indes noch gar nicht genau, was aus der Adaptive Learning Cloud eigentlich werden soll. Es ist möglich, dass ein ausgewählter Anbieter seine Software für die acht Länder zur Verfügung stellt. Entlohnt würde er dann per Lizenzgebühren, die er für das LMS samt Funktionen Künstlicher Intelligenz erheben kann. Es wäre aber auch denkbar, dass die angebotene Software kleineren Anbietern helfen soll, die nicht über die nötigen IT-Kapazitäten verfügen. Sie könnten dann ihre Ideen oder Inhalte für Schulen über die Software ausspielen. Bislang ist noch nicht entschieden, wie die acht Bundesländer vorgehen wollen, hat Table.Media erfahren.
Projekte aus dem Buzzword-Bingo der Digitalisierung
Aber auch andere Bund-Länder-Unterarten der Spezies der Lernplattform werfen Fragen auf: Warum bekommt die einst als Nationale Bildungscloud vom BMBF gestartete und als Drei-Länder-Cloud gelandete Unikum weitere 36 Millionen Euro? Immerhin gibt es zwei vernichtende Rechnungshofberichte, die dringend davor warnen, weiteres Geld in diese Plattform zu stecken. Warum wird ein etabliertes – und kommerzielles – LMS wie itslearning mit fast 13 Millionen Euro gefördert? Wem gehört die dabei entstehende neue Version? Und was hat es mit der pädagogischen Cloud-Infrastruktur auf sich? Die Projektbeschreibung liest sich wie aus dem Buzzword-Bingo der Digitalisierung – wurde aber dennoch mit 35 Millionen Euro belohnt.
Allerdings muss man den Ländern zugutehalten, dass sie in eine extrem dynamische technische Entwicklung geraten sind. Das Aufkommen generativer Sprachmodelle wie ChatGPT hat sowohl das Projekt „Intelligente Tutorielle Systeme“ als auch die „Adaptive Learning Cloud“ zurück auf Los geworfen. Für beide Projekte gibt es bislang noch keine Ausschreibung. Kein Wunder: Warum sollte man Schulen jetzt eine digitale Technologie zur Verfügung stellen, wenn der technische Fortschritt gerade die ganze Branche auf den Kopf stellt? (Von Christian Füller)