Umstrittener Chiang Kai-shek
„Große Persönlichkeit“ oder „kaltblütiger Diktator“? Das schwierige Erbe von Taiwans Langzeitherrscher
Jahrzehnte regierte Chiang Kai-shek Taiwan mit harter Hand. Heute streitet das Land darüber, wie es mit dem Erbe des Langzeitherrschers umgehen soll.
Sie tragen graue Paradeuniformen mit gelben Streifen, auf dem Kopf einen sorgfältig polierten Helm, in der Hand ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett. In strenger Choreografie schreiten die Soldaten den marmornen Innenraum der Chiang-Kai-shek-Gedenkhalle im Herzen Taipehs ab, schleudern ihre Gewehre durch die Luft, während von rechts und links die Handykameras auf sie gerichtet sind. Seit 1980 führt die Ehrengarde ihr martialisches Ritual auf, der Wachwechsel ist eine der beliebtesten Touristenattraktionen in der taiwanischen Hauptstadt. Doch damit ist jetzt Schluss, zumindest ein bisschen. Denn Mitte des Monats wurde die Zeremonie aus der Halle verbannt, hinaus auf den großen Platz vor dem imposanten Gebäude.
Es ist mehr als nur ein schnöder Ortswechsel. Die Entscheidung ist ein Statement der neuen Regierung von Präsident Lai Ching-te, der Ende Mai sein Amt angetreten hatte. „Beseitigung des Personenkults und Beendigung der Verehrung des Autoritarismus“ – so begründet Taiwans Kulturministerium den Schritt. Chiang Kai-shek, der Taiwan bis zu seinem Tod im Jahr 1975 mit harter Hand regierte und dem das Land fünf Jahre später die riesige Gedenkhalle im Zentrum von Taipeh errichtet hat, wird in Taiwan zunehmend kritisch gesehen. Sein Erbe gilt vielen als toxisch.
„Weißer Terror“: Unter Chiang Kai-shek wandern Zehntausende ins Gefängnis
Schon unter Lais Vorgängerin Tsai Ing-wen, wie er von der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP), die sich nach dem Ende der Chiang-Herrschaft gegründet hatte, wurden im ganzen Land Statuen des „Generalissimo“ abgebaut. Hunderte von ihnen hat man in einen Park in der Nähe von Chiangs Mausoleum in der Stadt Taoyuan gebracht, heute eine beliebte, wenn auch etwas bizarre Touristenattraktion. An die monumentale Gedenkhalle in Taipeh aber hat sich Taiwans Regierung bislang nur mit Samthandschuhen gewagt.
Zwar wurde der riesige Platz, an dem sie steht, schon vor Jahren von „Chiang Kai-shek-Gedenkplatz“ in „Freiheitsplatz“ umbenannt. Und in der Halle selbst befindet sich heute eine Ausstellung, die an Taiwans Wandlung von der Diktatur zur Demokratie erinnert. Daneben aber werden noch immer Chiangs schwarze Limousinen ausgestellt, und der Wachwechsel fand, zumindest bislang, zu den Füßen einer mehr als sechs Meter hohen und 21 Tonnen schweren Bronzestatue des toten Herrschers statt. Sie wird wohl auf absehbare Zeit an ihrem Platz bleiben. Als vor drei Jahren eine Kommission die Entfernung der Statue empfahl, ging ein Aufschrei durch Teile der Bevölkerung.
Als Anführer der nationalistischen Kuomintang (KMT) regierte Chiang Kai-shek von 1928 bis 1949 große Teile von Festlandchina. Nach dem chinesischen Bürgerkrieg und der Niederlage gegen Mao Zedongs Kommunisten floh er mit seinen Truppen auf die Insel Taiwan, von wo aus er das Festland zurückerobern wollte. In Taiwan verhängte Chiang das Kriegsrecht und ließ wirkliche oder vermeintliche Gegner verfolgen, inhaftieren, ermorden. Diese Jahre des „Weißen Terrors“ haben sich heute tief eingegraben ins Bewusstsein der Taiwaner. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 140.000 Menschen in diesen Schreckensjahren ins Gefängnis geworfen wurden, bis zu 4000 wurden ermordet.
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„Große politische Persönlichkeit“ oder „kaltblütiger Diktator“?
Unter Chiang erlebte Taiwan aber auch einen Wirtschaftsboom, das Land stieg auf zur Industrienation. Außerdem bewahrte er Taiwan vom Kommunismus, so sehen das viele seiner Anhänger noch heute. Viele Schulen, Straßen und Brücken sind weiterhin nach Chiang benannt. Auch in der kommunistischen Volksrepublik blicken viele eher milde auf den Kriegsgegner von einst. Für sie ist Chiang Kai-shek ein Mann, der China und das „abtrünnige“ Taiwan verbindet.
Kurz nach Chiangs Tod 1975 übernahm sein Sohn Chiang Ching-kuo die Macht in Taiwan, er beendete das Kriegsrecht, ließ schließlich demokratische Reformen zu. 1996 bekam das Land erstmals in freien Wahlen einen demokratischen Präsidenten, vier Jahre später zog zum ersten Mal ein Politiker der oppositionellen DPP in Taiwans Präsidentschaftspalast. Noch heute prägen die DPP und die ehemalige Chiang-Partei KMT die politische Landschaft in Taiwan. Das Bild, das die Menschen von Chiang haben, ist entlang dieser Parteilinien gespalten.
„Die Anhänger der Kuomintang sehen in ihm immer noch eine große politische Persönlichkeit, während er für die DPP-Anhänger ein kaltblütiger Diktator ist“, sagt der taiwanische Politikwissenschaftler Chen Fang-yu. In der Gesamtbevölkerung ist das Meinungsbild nur schwer zu fassen. In einer Umfrage aus dem Jahr 2020 gab fast jeder Dritte an, einen positiven Blick auf Chiang zu haben, nur 14 Prozent sahen ihn negativ. Rund die Hälfte der Befragten aber wollte sich nicht entscheiden. Politikwissenschaftler Chen erklärt das damit, dass viele Menschen in Taiwan ein unzureichendes Verständnis der eigenen Geschichte haben.
Zum Tode verurteilt – heute Kämpfer fürs Erinnern
Fred Chin hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, an die Verbrechen des Chiang-Regimes zu erinnern. Der 74-Jährige arbeitet als Ehrenamtlicher in einem ehemaligen Militärgefängnis im Süden von Taipeh, das seit mehreren Jahren als Museum dient. „Es ist schwierig, Chiang Kai-shek zu beurteilen“, sagt er bei einem Treffen vor ein paar Monaten. „Er hatte gute Seiten, weil er Taiwan vorangebracht hat. Und er hatte natürlich seine schlechten Seiten.“
Chin weiß, wovon er spricht. Ende der 60-er kommt er zum Studieren aus Malaysia nach Taiwan. Ein paar Jahre später, 1971, gerät er ins Visier des Geheimdienstes. Er habe Anschläge gegen die Staatsgewalt geplant, eröffnet man ihm und nimmt ihn fest. Chin beteuert seine Unschuld und wird dennoch zum Tode verurteilt. Nach seiner Verhaftung wartet er monatelang auf die Vollstreckung des Todesurteils, in einer winzigen, dunklen Zelle. Dann wird seine Strafe zu zwölf Jahren Haft umgewandelt, er wird auf eine Gefängnisinsel gebracht, als „lebender Toter“, wie er sagt. Aber er überlebt. Chin bleibt in Taiwan, er gründet eine Familie.
Die riesigen Statuen von Chiang, sagt er, während er in dem Gerichtssaal steht, in dem er einst seinen Richtern vorgeführt wurde, würden den Menschen zeigen, wie mächtig Chiang einst war. „Wir haben die Verpflichtung, aus der Geschichte zu lernen“, sagt Fred Chin. Wenn nichts mehr an Chiang Kai-shek erinnere, so seine Befürchtung, dann verblasse vielleicht auch die Erinnerung an seine Verbrechen.

