Analyse von US-Experte
Biden oder Trump? US-Wahl wird „eine kleine Gruppe Wählerinnen und Wähler knapp entscheiden“
Im November wird in den USA ein neuer Präsident gewählt. Das hat auch massive Auswirkungen auf Deutschland. Ein US-Experte erklärt, ob Trump oder Biden das Rennen macht.
Kaum jemanden kann die USA, ihre Politik und die kommenden Präsidentschaftswahlen besser analysieren als er: Der amerikanische Politikwissenschaftler James W. Davis. Er ist ausgewiesener Experte für US-Politik und Internationale Beziehungen, lehrt seit Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum. Für IPPEN.MEDIA schreibt er regelmäßig über die Lage der USA und die kommende Präsidentschaftswahl.
Eines der charakteristischen Merkmale dieses Wahlzyklus sind die scheinbar unverrückbaren Umfragewerte für die beiden Spitzenkandidaten. Sowohl für Präsident Joe Biden als auch für den ehemaligen Präsidenten Donald Trump liegen die Zustimmungswerte selten über 40 Prozent. Wenn wir uns den direkten Umfragen zuwenden, ist das Rennen seit Monaten statistisch unentschieden.
Das alles sollte uns nicht überraschen. Schließlich kennen die Amerikaner beide Männer bereits recht gut. Außerdem bilden sich die Menschen in einem stark polarisierten Umfeld ihre Meinung über Politiker häufig nicht so sehr auf der Grundlage ihrer Politik, sondern aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit. Im heutigen Amerika ist die politische Zugehörigkeit mit der Zugehörigkeit zu einem Stamm vergleichbar, und wir unterstützen unseren Stammesführer – was auch immer an einem bestimmten Tag aus seinem Mund kommt.
Biden oder Trump: „Halte diese Wahl für die wichtigste meines Lebens“
Der amerikanische Stammesgedanke zeigt sich nicht nur in den Reaktionen des Einzelnen auf die Präsidentschaftswahlen. Inzwischen sieht man ihn auch in den Siedlungsmustern der Bevölkerung. Es scheint, als würden die Amerikaner gerne in der Nähe von Menschen leben, die so denken wie sie selbst. So haben wir uns im Laufe der letzten Jahrzehnte in republikanische „rote“ Staaten und demokratische „blaue“ Staaten eingeteilt.
Das Ergebnis von all dem? Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, wird diese Wahl – die ich persönlich für die wichtigste meines Lebens halte – in den sogenannten Swing States von einer kleinen Gruppe Wählerinnen und Wähler, die noch zwischen den Stuhlen sitzen, knapp entschieden werden.
Zur Erinnerung: Die Amerikaner wählen ihren Präsidenten nicht direkt, sondern Staat für Staat im Wahlmännerkollegium. Die insgesamt 538 Wahlmänner werden auf die einzelnen Bundesstaaten sowie Washington DC entsprechend ihrer Bevölkerungszahl aufgeteilt. Mit wenigen Ausnahmen erhält der Gewinner der Volksabstimmung in einem bestimmten Staat alle Wahlmännerstimmen dieses Staates. Wer also 270 Wahlmännerstimmen erhält, ist der nächste Präsident der Vereinigten Staaten. Am 5. November gibt es kein statistisches Unentschieden.
► James W. Davis, US-Amerikaner, ist einer der renommiertesten Experten für US-Politik und internationale Beziehungen.
► Er studierte Internationale Beziehungen an der Michigan State University, promovierte 1995 in Politikwissenschaft an der Columbia University und habilitierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er bis 2005 lehrte.
► Seit 2005 ist er Professor für Internationale Beziehungen und Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen.
►Davis ist Autor mehrerer Bücher und hat zahlreiche wissenschaftliche Ehrungen erhalten, darunter Gastprofessuren und Fellowships an renommierten Institutionen.
Warum sich Donald Trump in einer von Schwarzen Amerikanern besuchten Kirche in Detroit zeigt
Das erklärt, warum die Kandidaten derweil so viel Zeit in Staaten wie Michigan, Wisconsin und Pennsylvania verbringen. Diese relativ bevölkerungsreichen – und damit reich an Wahlmännerstimmen – Staaten sind weder rot noch blau, sondern „lila“. Mit etwa der gleichen Anzahl von Republikanern und Demokraten können ein oder zwei Prozentpunkte in diesen Staaten für den Ausgang der US-Wahl entscheidend sein. Deswegen konnten wir seltsamerweise letzte Woche Donald Trump in einer von schwarzen Amerikanern besuchten Kirche in Detroit sehen.
Wenn es ihm gelingt, einige dieser traditionell demokratischen Wähler abzuschütteln, könnte er die 15 Wahlmännerstimmen von Michigan gewinnen. Dieselbe Logik treibt Präsident Biden ins republikanische, ländliche Pennsylvania, um über die 65 Milliarden Dollar zu sprechen, die seine Regierung in Hochgeschwindigkeits-Internetverbindungen für Amerikas ländliche Gemeinden investiert hat. Ein paar Tausend zusätzliche Stimmen von Bauernfamilien können dazu beitragen, dass Biden erneut, die 19 Wahlmännerstimmen von Pennsylvania gewinnt.
Biden und Trump in der TV-Debatte: Wichtig – aber vielleicht doch ohne Effekt
Dies erklärt auch, warum die Präsidentschaftsdebatte nächste Woche so wichtig ist. Da Millionen von Amerikanern die Debatte verfolgen, bietet sie jedem der Kandidaten die Möglichkeit, die Dynamik des Rennens zu verändern. Unentschiedene Wähler und Wählerinnen erinnern sich an die Trump-Jahre und fürchten eine Rückkehr zum Chaos. Aber sie haben auch ernsthafte Bedenken, ob Biden den Strapazen von vier weiteren Jahren im Weißen Haus gewachsen ist.
Es gibt jedoch gute Gründe, daran zu zweifeln, dass einer der beiden Erfolg haben wird. Die Debatte wird in einem Fernsehstudio, ohne Publikum stattfinden. Da Trump seine Energie und Konzentration aus der Bewunderung seiner Anhänger bezieht, ist es durchaus möglich, dass er derjenige sein wird, der lustlos und desorientiert wirkt. Und da die Regeln weder Notizen noch Rücksprachen mit Beratern, während der Pausen zulassen, wird der zu Fauxpas neigende Biden sicher mehr als eine verwirrende Antwort geben. Somit könnten wir am Tag nach der Debatte am 27. Juni wieder da stehen, wo wir heute auch sind. In einem Präsidentschaftswahlkampf, in dem keiner der Kandidaten wirklich zum Rennen gekommen ist.
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