Krieg in Israel
Netanjahu unter Druck: Kibbuze verweigern Treffen, Regierung gespalten, USA ziehen rote Linien
Netanjahu kämpft um sein Amt. Kritik kommt von den Familien der Geiseln, den Überlebenden der Massaker, seinen rechtsradikalen Koalitionspartnern, vom Konkurrenten Benny Gantz und aus den USA.
Tel Aviv – Benjamin Netanjahu gerät unter Druck, national wie international. 80 Prozent der befragten Israelis sehen den Ministerpräsidenten in einer Umfrage im Auftrag des konservativen israelischen Boulevardblatts Ma‘ariv als Mitverantwortlichen für die Massaker der islamistischen Hamas. Bereits kurz nach den Gräueltaten, bei denen die Terroristen mehr als 1000 israelische Zivilpersonen ermordeten, gab es Berichte über Sicherheitslücken an der Grenze zum Gazastreifen. US-Präsident Joe Biden mahnte bei seinem Solidaritätsbesuch in Israel Netanjahus Kriegskabinett dazu, sich nicht „von Wut leiten“ zu lassen und bei der Militäroffensive im Gazastreifen das Völkerrecht zu respektieren.
Menschen in Kfar Azza, Be‘eri und Nir Os verweigern Netanjahu ein Treffen
Innerhalb Israels war er bereits vor dem Krieg unbeliebt: Hunderttausende protestierten seit Januar 2023 gegen seine „Justizreform“, mit der er das israelische Höchstgericht entmachtet hat. Der liberale Oppositionsführer Jair Lapid kritisierte die Reform damals als „einseitige Aufhebung des demokratischen Charakters des Staates Israels“. Nach den Massakern werden die kritischen Stimmen immer lauter: Acht Kibbuze, darunter die von den Massakern besonders schwer betroffenen Menschen in Kfar Aza, Be‘eri und Nir Os, verweigern sich nun einem Treffen mit Netanjahu, berichtete die linksliberale Tageszeitung Ha‘aretz am 29. November. Die Zeitung fordert in ihren Kommentarspalten seit Wochen offen Netanjahus Rücktritt.
Nach dem Hamas-Überfall wurden die Grenzgebiete Israels evakuiert. Unter den Geflüchteten macht sich Enttäuschung und Wut breit. Die Menschen im Kibbuz Kfar Aza wurden nach dem Überfall evakuiert. Seitdem besuchten Politiker immer wieder das zerstörte Dorf nahe des Gazastreifens. Die geflohenen Menschen allerdings seien „wütend“, schrieb Ha‘aretz, „gar niemand“ aus der Politik habe sich bei ihnen blicken lassen. Am Mittwoch, so Ha‘aretz, lud Netanjahu Vertreter der Grenzorte ein. Der Vorsitzende des Kibbuz Nir Os, Osnat Peri, forderte in der Zeitung: „Der Premierminister (Netanjahu) soll sich mit allen von uns treffen, die das Massaker überlebt haben, nicht nur mit mir, nicht nur mit Vertretern.“ Die Führung des Kibbuz Be‘eri forderte Netanjahu auf, „mit Vorlauf und ohne Presse“ zu einem Gespräch über den Wiederaufbau zu ihnen zu kommen.
Netanjahus Büro soll versucht haben, bestimmte Geisel-Angehörige fernzuhalten
Unter Berufung auf anonyme Quellen berichtete die Zeitung, dass Netanjahus Büro wohl vorzuschreiben versucht haben soll, welche Familien zu einem Treffen kommen dürften. Erst am 23. November ermöglichte Netanjahu erstmals ein Gespräch zwischen den Familien der israelischen Geiseln und dem Kriegskabinett. Es sei „schwer und beschämend“, dass er erst nach Wochen Antworten bekomme, sagte Shai Wenkert, Vater des 22-jährigen Omer Wenkert, der vom Supernova Festival verschleppt wurde, vor der versammelten Weltpresse. CNN berichtete, nicht alle Familien hätten am Treffen mit der Regierung teilnehmen können, „aus Platzgründen“ hieß es lapidar.
Protest gegen Netanjahu: Auf der Straße, in der Opposition und auf der Regierungsbank
Das Treffen mit dem Kriegskabinett folgte auf einen Protestmarsch der Familien der Geiseln von Tel Aviv zum Regierungssitz in Jerusalem, dem sich laut der Tageszeitung Times of Israel 30.000 Menschen anschlossen. Auch Oppositionsführer Jair Lapid war unter ihnen. Der aussichtsreiche Netanjahu-Konkurrent Benny Gantz, der im Kriegskabinett sitzt, traf sich nach dem Protest mit den Familien. Vor einer Woche ging Gantz den Premier scharf für seinen Haushaltsentwurf an, in dem Millionenbeträge – in Schekel, wie in Euro – für Wahlversprechen der ultrarechten Koalitionspartner veranschlagt sind. Die Times of Israel berichtete über umgerechnet etwa 75 Millionen Euro für ultraorthodoxe Schulen, und dutzende Millionen, die das Kabinett dem rechtsradikalen Finanzminister Bezalel Smodrich billigte.
Bilder zeigen, wie der Krieg in Israel das Land verändert




In Israel muss Netanjahu die Kritik an seiner Politik mit den Auswüchsen seiner Koalition mit dem rechtsradikalen Smodrich und dem rechtsextremem Itamar Ben-Gvir, seinem Minister für nationale Sicherheit, austarieren. Ben-Gvir und die beiden anderen Minister der rechtsextremen Partei „Jüdische Stärke“ stimmten am 22. November gegen das Waffenstillstandsabkommen und den Austausch der Geiseln in Gaza gegen Strafgefangene aus israelischen Gefängnissen. Amichau Eliyahu, Kulturerbeminister der Partei, wurde von Netanjahu suspendiert, weil er einen Nuklearwaffeneinsatz in Gaza forderte. Beide Koalitionspartner rechts von Netanjahu setzen ihn unter Druck, möglichst schnell den Angriff auf die Hamas im Gazastreifen fortzusetzen.
Umfrage: Israelis würden Netanjahu abwählen
Und die israelische Gesellschaft scheint sich einen Machtwechsel nach dem Krieg zu wünschen: Laut einer Umfrage von Ma‘ariv flöge die Partei des Rechtsradikalen Smodrichs aus dem Parlament, während die Partei von Benny Gantz ihre Mandatszahl voraussichtlich verdoppeln würde. Die Likud-Partei verlöre fast die Hälfte ihrer Sitze. Einzig die den Siedlern im Westjordanland nahestehende Partei von Itamar Ben-Gvir könnte ihren Stimmanteil etwa halten. Die Liberalen von Jair Lapid würden zwar verlieren, trotzdem wäre Netanjahus aktuelle Koalition klar abgewählt.
Biden-Regierung fordert einen Plan für Gaza und macht ihren Einfluss geltend
Einen Plan, wie es nach dem Krieg mit der Hamas im Gaza-Streifen weitergeht, verlangt auch die US-Regierung von Joe Biden. Die trägt zwar das Kriegsziel, die Hamas zu zerschlagen, grundsätzlich mit, allerdings nicht um jeden Preis. Israel ist auf den Verbündeten angewiesen, analysiert Ha‘aretz: Versorgung der eigenen Truppen und Abschreckung anderer islamistischer Terrorgruppen wie der Hisbollah im Libanon und des Irans gleichzeitig seien nur schwer ohne die USA möglich, außerdem müsse der Hafen Eilat am Roten Meer offen gehalten werden. Als wahrscheinlich schätzt die Zeitung ein, dass Biden klare Pläne für den Tag nach dem Krieg fordern wird, bevor der Waffenstillstand endet.
Eine bevorzugte Lösung, die auch US-Beamten in letzter Zeit immer wieder anbrachten, sei die Rückkehr der Palästinensischen Autonomiebehörde nach Gaza. Deren Präsident Mahmud Abbas weigerte sich allerdings zuletzt, genau das zu tun, da er nicht mithilfe der Israelis zurück an die Macht kommen wollte. (kb)
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