Steinwürfe und Drohanrufe
Wegen Fukushima-Abwasser: In China kocht der Hass auf Japan wieder hoch
Seit Japan Abwasser aus der Atomruine Fukushima ins Meer ablässt, kommt es in China zu Ausschreitungen und Protesten. Dahinter steckt mehr als die Angst vor verseuchtem Fisch.
München/Peking – Frau Chen hat neuerdings Angst vor ihrem Lieblingsessen. Die 49-Jährige, die mit ihrem Mann im Nordosten von Peking lebt, liebt Meeresfrüchte. Eigentlich. „Aber ich frage mich, ob ich das noch gefahrlos essen kann“, erzählt sie. Der Grund für Frau Chens Sorgen befindet sich rund 2000 Kilometer östlich von Peking, im japanischen Fukushima. Seit vergangenem Donnerstag lässt Japans Regierung Wasser, das zur Kühlung des havarierten Atomreaktors Fukushima Daiichi verwendet worden war, ins Meer einleiten. Am selben Tag verkündete die Regierung in Peking, ab sofort den Import von Meeresfrüchten und Fischen aus Japan zu stoppen. Wohlgemerkt: Nicht nur aus der Region Fukushima, sondern aus dem ganzen Land. Es geht um Importe im Wert von jährlich 600 Millionen US-Dollar.
Die Bedenken von Frau Chen macht das nicht kleiner. Sie glaubt, dass dennoch Krabben aus Japan auf ihrem Teller landen könnten. Und überhaupt: Könnte das Fukushima-Wasser nicht bald auch an Chinas Küsten gespült werden und dort alles verstrahlen? Eine Studie der Pekinger Tsinghua-Universität besagt jedenfalls: „Das aus dem japanischen Kernkraftwerk Fukushima freigesetzte nuklear verseuchte Abwasser wird 240 Tage nach der Einleitung die Küstengewässer Chinas erreichen.“
Dass nicht nur Japans Regierung, sondern auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) das eingeleitete Wasser für unbedenklich erklärt haben, hält Frau Chen für Unsinn. „Ich glaube denen kein Wort“, sagt sie. Ihren ganzen Namen will Frau Chen nicht nennen, obwohl sie mit ihrer Angst nicht alleine ist in China und obwohl auch die Regierung seit Wochen die Sorgen der Bevölkerung befeuert. Wenn „das verseuchte Wasser aus Fukushima“ wirklich sicher sei, dann müsste es doch gar nicht ins Meer geleitet werden, erklärte etwa in der vergangenen Woche ein Sprecher von Chinas Außenamt. Besser sei es, das Wasser zu verdampfen.
Fukushima: China protestiert gegen Ablassen von 1,3 Millionen Tonnen Wasser
Was freilich außer Acht lässt, dass Japan die rund 1,3 Millionen Tonnen Fukushima-Wasser mitnichten einfach aus den Lagertanks ins Meer ablässt. Vielmehr wird das seit 2011 gesammelte Kühlwasser mit Meerwasser verdünnt und über einen Zeitraum von 30 Jahren in den Pazifik eingeleitet. Zuvor wird das Wasser aufbereitet, lediglich das radioaktive Isotop Tritium kann nicht herausgefiltert werden. Die Tritium-Konzentration sinke dank der Verdünnung aber auf 1500 Becquerel pro Liter – laut dem AKW-Betreiber Tepco weniger als ein Vierzigstel der nationalen Sicherheitsnorm. Eine Analyse des Wassers an der Küste von Fukushima ergab nach Angaben des japanischen Umweltministeriums vom Sonntag keine erhöhten Tritium-Werte.
Chinas Außenamt aber beharrt darauf, es gebe einen internationalen Konsens, dass Japans Verhalten unverantwortlich sei. Die Philippinen allerdings, die südwestlich von Japan liegen, erklärten, man blicke aus einer „wissenschaftlichen und faktenbasierten“ Perspektive auf den Vorgang und habe keine Bedenken.
Auch in Südkorea, einem weiteren Nachbarn Japans, gibt sich die Regierung demonstrativ unbeeindruckt. Am Montag erst ließen Präsident Yoon Suk-yeol und sein Premierminister mitteilen, sie hätten sich zu ihrem wöchentlichen Arbeitsmittagessen Meeresfrüchte auftischen lassen. Serviert worden seien in der Kantine des Präsidentenbüros roher Fisch und gegrillte Makrelen, berichtete die Nachrichtenagentur Yonhap, der Andrang sei anderthalbmal so groß gewesen wie sonst üblich. Allerdings untersagt auch Südkorea weiterhin den Import von Fisch und Meeresfrüchten aus der Region um das havarierte Atomkraftwerk.
China: Ziegelsteine auf japanische Botschaft und japanische Schulen
Und so entspannt wie Yoon sieht das ohnehin nicht jeder in Südkorea. 62 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in dem Land gaben im Juli in einer Umfrage an, weniger oder gar keine Meeresfrüchte mehr essen zu wollen, sobald Japan mit der Verklappung des Kühlwassers beginne. Auch kam es in Seoul zu teils heftigen Protesten, ebenso wie übrigens auch in Japan selbst, wo viele Fischer um ihre Zukunft bangen.
Vor allem aber in China kocht der Volkszorn über. So wurden laut der Regierung in Tokio Ziegelsteine auf die japanische Botschaft in Peking sowie auf japanische Schulen geworfen. Und in Japan berichteten zahlreiche Unternehmen von Drohanrufen aus China. Premierminister Fumio Kishida sagte am Montag, er habe den chinesischen Botschafter einbestellt und „nachdrücklich aufgefordert, das chinesische Volk aufzurufen, ruhig und verantwortungsbewusst zu handeln“. Momentan aber spricht nichts dafür, dass Chinas Regierung Kishidas Bitte nachkommt.
Auf Chinas ansonsten streng zensierten sozialem Netzwerk Weibo etwa trendet seit Tagen der Hashtag „fudao zhenxiang“ („Die Wahrheit über Fukushima“), unter dem Hunderttausende Nutzer verständliche Sorgen ebenso teilen wie Aufrufe zum Kauf von Jodtabletten und Falschmeldungen der Staatspresse. „Wie schafft es Japan nur, einfach immer abscheulich zu sein?“, fragt ein Nutzer. Ein anderer nennt Japan „das heimtückischste Land der Welt“.
China und Japan: ein schwieriges Verhältnis
All das weckt ungute Erinnerungen an das Jahr 2012, als sich schon einmal der staatlich orchestrierte Volkszorn gegen Japan entlud. Damals ging es um eine unbewohnte Inselgruppe im Ostchinesischen Meer, die sowohl von Japan als auch von Taiwan und der Volksrepublik China beansprucht wird. Nachdem die Regierung in Tokio die Inselchen von ihrem Privatbesitzer gekauft hatte, kam es in China zu Ausschreitungen gegen japanische Geschäfte und zu Boykottaufrufen.
Auch jetzt liegt die Vermutung nahe, dass hinter der allgemeinen Empörung mehr steckt als nur die Angst vor belastetem Fisch. Das Verhältnis zwischen Peking und Tokio ist aufgrund von Japans Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg ohnehin historisch belastet, zudem nähert sich die Regierung von Premier Kishida derzeit im Sauseschritt dem Nachbarland Südkorea an. Auf einem historischen Gipfel in Camp David schlossen die beiden Länder – deren Verhältnis bislang wegen der japanischen Besatzung Koreas von 1910 bis 1945 ebenfalls nicht das beste war – zusammen mit den USA unlängst ein Dreierbündnis, das Peking umgehend als „Blockkonfrontation“ verurteilte.
Was Chinas Regierung derweil verschweigt: Im Jahr 2021 leiteten laut japanischem Wirtschaftsministerium ganze 13 chinesische Atomkraftwerke mehr mit Tritium belastete Wasser in die Umwelt als es nun die Japaner tun. In den staatlich kontrollierten Medien des Landes war das aber freilich kein Thema.
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