Thema für den Stadtrat in Mühldorf
Stolpersteine für NS-Opfer: Würdiges Erinnern oder ein Tritt mit den Füßen?
Wie soll sich Mühldorf an jüdische NS-Opfer erinnern? Ein Mühldorfer wünscht sich Stolpersteine. Aber die sind umstritten. Bald wird sich auch der Stadtrat mit dem Thema beschäftigen.
Mühldorf – Es gibt sie bereits in vielen europäischen Städten – nun sollen sie auch in Mühldorf verlegt werden: Stolpersteine, die an das Schicksal verfolgter und ermordeter Juden der NS-Zeit erinnern. Diesen Wunsch hat Christopher Moreira, Begründer der Aktionsgemeinschaft Max Mannheimer; Stadtarchivar Edwin Hamberger unterstützt ihn ebenso wie Bürgermeister Michael Hetzl und Kulturreferentin Claudia Hungerhuber.
Stolpersteine sind quadratische Messingtafeln mit einer Kantenlänge von zehn Zentimetern, die auf einem Betonstein aufgebracht sind und vor den Wohnungen der NS-Opfer, in denen sie zuletzt freiwillig gelebt haben, plan im Boden verlegt werden. Sie tragen die Namen, Geburtsdaten und das Schicksal der betroffenen Personen. „Sie sind ein sichtbares Zeichen des Erinnerns und der Mahnung“, sagt Moreira.
Opfer ohne Gräber und Grabsteine
„Die meisten der Opfer haben weder Gräber noch Grabsteine“, sagt der Begründer diese Aktion, Gunter Demnig aus dem hessischen Alsfeld-Elbenrod in Hessen. 113.000 Stolpersteine seien mittlerweile in 32 Ländern Europas verlegt. Sie sollen die Erinnerung an die Opfer des Nazi-Regimes wachhalten und für die junge Generation ein Mahnmal sein: Wie konnte das passieren?
„Von nationalsozialistischer Verfolgung war in Mühldorf etwa eine Handvoll jüdischer Familien betroffen“, erklärt Bürgermeister Hetzl. „Die Erinnerung an ihre Schicksale und die historische Aufarbeitung dieses Themas sind mir persönlich sehr wichtig – und das gilt seit langem für die Kreisstadt Mühldorf insgesamt.“ Hetzl verweist dazu auf die gemeinsam mit dem Landkreis getragene Dauerausstellung im Haberkasten, in der auf die Biografien der jüdischen Bürger eingegangen werde. Zusätzlichen Erinnerungsformen im öffentlichen Raum stünden die Stadt und auch er persönlich offen gegenüber.
Erinnerung sichtbar machen
Dem Thema gegenüber ebenfalls „sehr offen und zustimmend eingestellt“ zeigt sich auch Kulturreferentin Claudia Hungerhuber: „Es ist wichtig, die Erinnerung aufrechtzuerhalten und sichtbar zu machen.“ Dies sei in verschiedenen Formen möglich, worauf auch Hetzl hinweist: „Das können Stolpersteine sein oder aber Tafeln, die anderswo angebracht sind.“
Die Stolpersteine sind nicht unumstritten. Charlotte Knobloch, Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, ist vehement dagegen: Das Andenken an die Opfer der NS-Zeit werde damit mit Füßen getreten. Ein würdiges Gedenken müsse auf Augenhöhe stattfinden.
München hat zwei Lösungen
In München hat der Stadtrat daher die Verlegung von Stolpersteinen auf öffentlichen Straßen und Plätzen untersagt. Stattdessen wird dort mit Stelen oder Tafeln an Hauswänden der Opfer gedacht.
Dennoch gibt es auch in München insgesamt 345 Stolpersteine – auf privatem und staatlichem Grund. Betreut werden sie von Terry Swartzberg, der auch die Mühldorfer Initiative unterstützt. Swartzberg hat das Gedenkprojekt „Faces for the Names“ initiiert, in dessen Rahmen im März 2024 verschiedene Gedenkaktionen in Mühldorf stattgefunden haben. Swartzberg würde auch gerne zur Verlegung von Stolpersteinen wieder nach Mühldorf kommen.
Größtes dezentrales Mahnmal der Welt
Insgesamt hätten sich in Bayern mittlerweile 131 Städte und Gemeinden der Aktion angeschlossen, so Swartzberg; in Europa seien es 1800 Städte. „Demnigs Stolpersteine gelten als das größte dezentrale Mahnmal der Welt.“ Die Kosten für die Steine und das Verlegen würden komplett über Spenden finanziert.
Das Vorhaben ist in den Augen von Stadtarchivar Hamberger „eine sehr, sehr gute Idee“. Aus der Bürgerschaft sei dieses Anliegen schon mehrfach an ihn herangetragen worden. Die Stadtverwaltung plane, im März im Haupt- und Kulturausschuss darüber zu diskutieren. Bürgermeister Hetzl: „Wir werden das Thema und die konkreten Möglichkeiten im kommenden Jahr in unseren Gremien diskutieren.“ Er zeigt sich überzeugt, dass „eine sehr gute und von allen getragene Lösung“ gefunden werden wird.
An diese jüdischen Mühldorfer soll erinnert werden
Der jüdische Pferdehändler Siegfried Hellmann, 1879 in Gunzenhausen geboren, kam 1907 mit seiner katholischen Frau Katharina nach Mühldorf. Das Ehepaar hatte drei Kinder und betrieb in der Hindenburgstraße 16, der heutigen Friedrich-Ebert-Straße, eine Pferdehandlung. Am 10. November 1938 wurden Siegfried Hellmann und sein Bruder Herrmann verhaftet. Danach begann die Enteignung der Familie. Am 11. Januar 1939 flüchtete Siegfried Hellmann nach Amsterdam und Rotterdam. Im Oktober 1940 zog er in die holländische Stadt Meppel, wo er am 5. Mai 1942 von der SS verhaftet wurde. Am 16. Juli wurde er nach Auschwitz deportiert und dort vermutlich am 2. September ermordet.
Die jüdischen Kaufleute Fritz und Eva Michaelis kamen aus Passau und eröffneten in Mühldorf am 1. März 1931 am Stadtplatz 68 ein Geschäft für Herren- und Knabenbekleidung. Die fortwährende Diskriminierung veranlasste das Ehepaar dazu, ihr Geschäft am 9. April 1937 abzumelden. Fritz und Eva Michaelis flüchteten nach New York, wo sie sich ein neues Leben aufbauen mussten. Fritz Michaelis starb 1952 in den USA, über das Schicksal seiner Frau ist nichts bekannt.
Josef Hermann Liebenstein war ein jüdischer Viehhändler, der im Februar 1913 mit seiner katholischen Frau Anna nach Mühldorf kam. Das Ehepaar wohnte zuerst am Bahnhofsfußweg, bevor es in der Neumarkter Straße 14 eine Vieh- und Pferdehandlung eröffnete und von 1920 bis 1926 betrieb. Von 1927 bis 1935 war Josef Hermann Liebenstein am Viehhandel von Otto Pohlhammer in der Neumarkter Straße 4 beteiligt. Die beiden Töchter der Liebensteins reisten 1935 und 1936 nach London aus. Josef Hermann Liebenstein verließ am 7. April 1938 den Landkreis in Richtung Frankfurt am Main, da ihm seine Handelserlaubnis entzogen worden war. Seine Frau Anna blieb in Mühldorf und beantragte ein Armenrechtszeugnis. Im August 1938 wurde die Ehe geschieden. Anna heiratete wieder und lebte bis zu ihrem Tod 1953 am Stadtberg 3 in Mühldorf. Josef Hermann Liebenstein wurde am 10. November 1938 in München verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau gebracht, aus dem er am 20. Dezember entlassen wurde. Am 15. April 1939 heiratete auch er wieder und floh unmittelbar nach der Trauung nach New York.
Die Jüdin Rita Baur kam mit ihrem katholischen Ehemann Wolfgang Andreas Baur 1934 von Hammelburg nach Mühldorf. Am 28. November 1944 wurde Wolfgang Baur verhaftet, vermutlich weil er die Ehe mit seiner jüdischen Frau trotz des ausgeübten Drucks nicht auflösen wollte. Rita Baur wurde am 20. Februar 1945 verhaftet und am 22. Februar zur Zwangsarbeit in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Wolfgang Andreas und Rita Baur überlebten die nationalsozialistische Verfolgung und kehrten nach dem Krieg nach Mühldorf zurück. Am 11. Juli 1958 starb Wolfgang Baur, seine Frau lebte bis 1995 zurückgezogen in Mühldorf.
Quelle: „Das Mühlrad“, Band 58, Jg. 2016
Schicksal von Max Mannheimer war prägend
Vor allem das Schicksal Max Mannheimers hat Moreira zu seiner Initiative für Mühldorf veranlasst. Mannheimer war ein Holocaust-Überlebender, der beim Bunkerbau in Mühldorf Zwangsarbeit leisten musste. „Nach dem Krieg widmete Mannheimer sein Leben der Aufklärung über den Holocaust und war in der Gedenk- und Bildungsarbeit tätig“, so Moreira. In diesem Zusammenhang habe er Mannheimer als Schüler persönlich kennengelernt: „Die ganze Klasse war bewegt, da war was im Raum.“


