Nur 0,75 freie Betten pro Standort
Dramatischer Bettenmangel in Kinderkliniken: Dringende Herz-Op muss warten - tagelang in Notaufnahme
Vielen Mädchen und Jungen machen derzeit Atemwegsinfekte zu schaffen. Für Babys kann insbesondere der Erreger RSV besonders gefährlich werden. Dutzende Kliniken können keine kleinen Patienten mehr aufnehmen, berichten Kinderärzte. Kinder müssten tagelang in der Notaufnahme liegen beziehungsweise in freie Kliniken in anderen Bundesländer gebracht werden.
München – Überbelegte Patientenzimmer, tagelanger Aufenthalt in der Notaufnahme, Verlegung von kranken Babys in mehr als 100 Kilometer entfernte Krankenhäuser: Die aktuelle Welle von Atemwegsinfekten bringt Kinderkliniken in Deutschland an ihre Grenzen. Nach Corona spricht die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) erneut von einer „katastrophalen Lage“. Wenn ein gerade reanimierter Säugling in einer eigentlich voll belegten Kinderklinik aufgenommen werde, müsse dort ein Dreijähriger den dritten Tag in Folge auf seine dringend notwendige Herzoperation warten.
Ein dramatischer Bettenmangel in Kinderkliniken wird beklagt. „Von 110 Kinderkliniken hatten zuletzt 43 Einrichtungen kein einziges Bett mehr auf der Normalstation frei. Lediglich 83 freie Betten gibt es generell noch auf pädiatrischen Kinderintensivstationen in ganz Deutschland – das sind 0,75 freie Betten pro Klinik, also weniger als eines pro Standort“, teilte die DIVI am Donnerstag in München mit. Dies ergab eine aktuelle Ad-hoc-Umfrage unter 130 Kinderkliniken. 110 Häuser hätten ihre Daten vom Stichprobentag 24. November, also vor einer Woche, bereitgestellt. Bei der Umfrage wurden laut DIVI alle Kinderkliniken angeschrieben, die am bundesweiten „Kleeblattkonzept“ zur Patientenverlegung teilnehmen. Dabei arbeiten jeweils bestimmte Bundesländer zusammen.
Die Ärztevereinigung will an diesem Donnerstag (1. Dezember) in Hamburg noch weitere Zahlen und Erkenntnisse aus der Umfrage vorstellen. Den Medizinern zufolge ist jedes Jahr ab Herbst mit einer Welle von Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) zu rechnen. Allerdings stehen insgesamt immer weniger Kinderklinik-Betten zur Verfügung, wie Divi-Generalsekretär Florian Hoffmann am Mittwoch im ZDF-„Morgenmagazin“ schon erläuterte. Wegen des Mangels an Pflegepersonal könne zudem ein großer Teil der Betten auf den Stationen gar nicht betrieben werden.
„Das ist eine katastrophale Situation, anders ist es nicht zu bezeichnen. Deshalb fordern wir die sofortige Optimierung von Arbeitsbedingungen in den Kinderkliniken, den Aufbau telemedizinischer Netzwerke zwischen den pädiatrischen Einrichtungen und den Aufbau von spezialisierten Kinderintensivtransport-Systemen. Wir müssen jetzt endlich handeln“, so Hoffmann.
RSV-Welle baut sich immer weiter auf
„Die RSV-Welle baut sich immer weiter auf und macht bei vielen Kindern die Behandlung mit Atemunterstützung notwendig. Wir können Stand heute davon ausgehen, dass es zu dieser Behandlung nicht genügend Kinder-Intensivbetten gibt“, ergänzt Prof. Sebastian Brenner, DIVI-Kongresspräsident und Bereichsleiter der interdisziplinären Pädiatrischen Intensivmedizin im Fachbereich Neonatologie und Pädiatrischen Intensivmedizin der Unikinderklinik Dresden.
Bei der Erhebung habe jede zweite Klinik berichtet, dass sie in den vergangenen 24 Stunden mindestens ein Kind nach Anfrage durch Rettungsdienst oder Notaufnahme nicht für die Kinderintensivmedizin annehmen konnten – also der Anfragende weitersuchen musste nach einem adäquaten Behandlungsplatz. „Diese Situation verschärft sich von Jahr zu Jahr und wird auf dem Rücken kritisch kranker Kinder ausgetragen“, so Hoffmann.
„Wir sind an der Belastungsgrenze“, sagt Matthias Keller, Leiter der Kinderklinik Dritter Orden Passau bereits jetzt. Die Zimmer seien oft doppelt belegt. Es fehlten zum Teil Monitore zur Überwachung der Kinder sowie Geräte für die Atemunterstützung. „Manche Patientenzimmer sind wie Bettenlager, da muss man wirklich über die Betten krabbeln, um zum kranken Kind zu kommen, weil sich Elternbett an Patientenbett reiht“, sagt Keller, der auch Vorsitzender der süddeutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin ist.
Zum Thema: „Wie die Lage in den Krankenhäusern in unserer Region ist“, wird die Redaktion im Laufe des Tages noch einen gesonderten Artikel veröffentlichen.
47 Kliniken melden null verfügbar Betten
Die DIVI-Zahlen im Detail: Die 110 rückmeldenden Häuser weisen insgesamt 607 aufstellbare Betten aus, von denen aber lediglich 367 Betten betrieben werden können. Grund für die Sperrung von 39,5 Prozent der Intensivbetten für Kinder ist hauptsächlich der Personalmangel. An 79 Häusern, also bei 71,8 Prozent der Befragten, ist Pflegepersonalmangel konkreter Grund für die Bettensperrungen. Freie Betten gab es lediglich 83, das heißt durchschnittlich 0,75 Prozent freie Betten pro Klinik. 47 Kliniken melden null verfügbare Betten, 44 Kliniken ein freies Bett. 51 Kliniken berichten von abgelehnten Patientenanfragen. Heißt konkret: 46,4 Prozent der an der Umfrage teilnehmenden Kliniken berichten von insgesamt 116 abgelehnten Patientinnen und Patienten – an nur einem Tag.
Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) kommen weltweit geschätzte 5,6 schwere Fälle von RSV-Atemwegserkrankungen pro 1000 Kinder im ersten Lebensjahr vor. Innerhalb des ersten Lebensjahres hätten normalerweise 50 bis 70 Prozent und bis zum Ende des zweiten Lebensjahres nahezu alle Kinder mindestens eine Infektion mit RSV durchgemacht. Im Zuge der Corona-Schutzmaßnahmen waren viele solche Infektionen allerdings zeitweise ausgeblieben. Sind die Krankenhäuser jetzt am Limit, weil Mädchen und Jungen in der Corona-Zeit wenige Kontakte hatten und jetzt Infektionen nachholen?
Die Kindermediziner sehen nicht die Pandemie als primäre Verursacherin der teils dramatischen Situation in den Kliniken. „Dass Kinderleben im Moment in Gefahr sind, das hat die Politik zu verantworten“, meint Jakob Maske, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Früher seien ganz andere Wirtschaftlichkeitskriterien an die Pädiatrie, also Kinderheilkunde, gestellt worden. „Jetzt muss Medizin profitabel sein, nicht Krankheiten heilen, sondern Geld bringen.“
„Maximal angespannte Lage“
Sechs bis acht Wochen dauert eine Infektionswelle üblicherweise. Nicht nur in Bayern, Niedersachsen und Berlin, auch in Nordrhein-Westfalen berichten Kliniken von einer „maximal angespannten Lage“. So erlebt die Düsseldorfer Universitätsklinik bei ihren jungen Patientinnen und Patienten neben der RSV-Welle auch eine Grippewelle, die „vornehmlich den Kindern bis ins Grundschulalter massiv zu schaffen macht“, sagte Uniklinik-Sprecher Tobias Pott.
Bei der Tagung ihrer Fachgesellschaft in Hamburg beraten die Intensivmediziner und Intensivpflegekräfte auch über Lösungsansätze in der Krise. Kurzfristig können laut Divi-Generalsekretär Hoffmann Notfallpläne helfen. Das Kinderkrankenhaus Auf der Bult in Hannover zum Beispiel hat bereits eine Task Force einberufen. Möglicherweise könne auch Pflegepersonal von der Erwachsenenmedizin temporär in die Kinderkliniken geholt werden, sagt Hoffmann, der auch Oberarzt am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München ist. Vor allem müsse aber viel mehr Personal für die Kinderpflege ausgebildet werden. „Wir müssen Pflege stärken. Nur wenn wir das machen, haben wir eine Chance.“
mz