Die Hüterin der Liebespost berichtet
„Innigstgeliebtester“ zu „Vermiss dich krass, my Love“? Wie sich Liebesbriefe gewandelt haben
Wohl kaum eine Frau hat so viel Liebespost zugeschickt bekommen wie Birte Gnau-Franké. Das hängt mit ihrem Beruf zusammen. Sie arbeitet in einem Liebesbriefarchiv und erforscht, wie sich die Botschaften im Laufe der Jahrhunderte verändern.
München/Koblenz – Der moderne Liebesbrief passt auf einen Post-it. Der Verfasser hat ihn auf einem Kopfkissen hinterlassen. „Von mir war nur ein Socken hier. Also nahm ich zwei von dir“, steht darauf, darunter ein kleiner Smiley. Im 19. Jahrhundert wäre das natürlich undenkbar gewesen. Damals wimmelte es in den Liebesbotschaften noch von „werthen Damen“ und „theuersten Innigstgeliebtesten“. Und hätte es im Jahr 1715 schon Post-its gegeben, hätte der kleine Zettel einem gewissen Herrn Borener wohl kaum gereicht, um seiner angebeteten Lotte seine Gefühle zu offenbaren. „Ein göttliches Feuer strömt in meinen Adern, reißt mich hin, wirft mich zu den Füßen meiner Göttin nieder“, schrieb er.
So schwülstig geht es nicht in allen Botschaften zu, die die Damen einst erhielten, berichtet Birte Gnau-Franké schmunzelnd. Wohl kaum jemand hat so viele Liebesbriefe gelesen wie sie. Die 35-Jährige arbeitet in Deutschlands einzigem Liebesbriefarchiv in Koblenz, das in den 90ern von der Sprachwissenschaftlerin Eva Wyss gegründet wurde. Briefe aus dem ganzen Land werden dort gesammelt, archiviert, einige sogar vertont. Die Botschaften werden wissenschaftlich untersucht, einige werden mit Einwilligung der Einsender auf der Webseite veröffentlicht. Schon bei ihrem Praktikum im Archiv war Gnau-Franké fasziniert von den Briefen. „Es ist ein Privileg, diese Korrespondenzen lesen zu dürfen.“ Und es wird nicht langweilig. „Kein Brief ist wie der andere.“
Liebesbriefe waren früher Männersache
Die 35-Jährige ist studierte Historikerin und betrachtet die Liebesbotschaften im Kontext der Zeit. Bis ins 19. Jahrhundert war das Liebesbriefe-Schreiben eher Männersache, berichtet sie. „Sie trauten sich auch damals schon, ihr Begehren weniger verklausuliert auszudrücken.“ Die Angebeteten durften nur zurückhaltend und züchtig antworten, sonst wäre ihr Ruf in Gefahr gewesen. Das änderte sich laut Gnau-Franké erst in den 1980er-Jahren. „Seitdem finden sich auch leidenschaftliche Briefe von Frauen.“
Die großen Emotionen aus vier Jahrhunderten und 67 Ländern werden recht nüchtern aufbewahrt: in einem schmuck- und fensterlosen Raum der Unibibliothek. Sie lagern dort in schlichten Pappkartons. Insgesamt sind es 44 088 Liebesbriefe, rund 27 000 davon sind bereits wissenschaftlich erschlossen.
Das Archiv wächst Jahr für Jahr. Der Bestand wird seit 2015 digitalisiert. „Die Spender sind vor allem ältere Menschen, die Angst haben, dass die Briefe nach ihrem Tod verloren gehen könnten“, berichtet Gnau-Franké. Aber es gibt auch junge Liebesbriefschreiber, die ihre Botschaften dem Archiv überlassen. Manchmal, weil eine Beziehung vorbei ist. Manchmal, weil sie die Briefe als so schön empfinden, dass sie diese in einem Archiv aufbewahren lassen wollen. Allerdings gibt es keine Kriterien dafür, was einen guten Liebesbrief ausmacht, sagt die Expertin. „Es ist wichtig, sich Gedanken über die Person zu machen – und darüber, welche Worte sie freuen könnten.“
Das muss nicht immer mit Tinte auf Briefpapier passieren. Liebesbotschaften gibt es auch im digitalen Zeitalter. Das können WhatsApp-Nachrichten sein, sagt die Historikerin. Oder Graffiti. Von beidem hat sie abfotografierte Exemplare in den Händen gehabt. Im Archiv gibt es auch ein Konvolut von 10 000 E-Mails, die zwischen einem Mann und einer Frau hin- und hergingen.
Nicht nur das Aussehen der Liebesbriefe hat sich über die Jahrhunderte verändert – sondern auch ihr Ton. Zum Beispiel, wenn es um Kosenamen geht. „Bei den älteren Briefen werden die Frauen oft Engel, Liebling, Teuerste oder Herzblatt genannt“, sagt Gnau-Franké. Später wurden die Verfasser kreativer. In modernen Briefen finden sich Kosenamen wie „meine Leopardendame“, „mein bunter Grashüpfer“ oder „mein tapferer Tiger“. Sogar ein umarmtes Miststückchen hat es in einen Brief geschafft. Auch die Liebeserklärungen haben sich verändert, sie sind mit mehr körperlichen Empfindungen kombiniert. „In älteren Briefen ist von Küssen oder Umarmungen die Rede.“ Frauen antworteten zaghaft, zum Beispiel mit: „Ein innerer Jubel lebt in mir.“ In neueren Briefen werde die Sexualität beim Namen genannt, sagt die Expertin. Auch die Frauen wurden lockerer.
Sorgen um die Zukunft des Liebesbriefs macht sich Birte Gnau-Franké nicht. Er werde aber kürzer. Paare, die zusammenwohnen, hinterlassen sich Zettelchen. Manchmal sind das eben auch Post-its auf dem Kissen. Manche Korrespondenzen rühren die 35-Jährige fast zu Tränen. Zum Beispiel die Briefe, die ein Mann seiner Freundin nach der Trennung schrieb, aber nie abschickte. Sie stecken voller Liebe. „Er hat so schöne Worte für seinen Trennungsschmerz gefunden, dass man richtig mitfühlt.“ Ein anderer, jüngerer Briefverfasser brauchte für dieselbe Botschaft nur fünf Worte: „Vermiss dich krass, my Love.“