Dialekte stehen im Zentrum eines kulturellen Erbes, dessen Erhalt zunehmend gefährdet ist. Dr. Johann Wellner, ein Experte auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft, beleuchtet die Herausforderungen und Chancen für Mundarten in Bayern. Ein entscheidendes Projekt könnte die Weichen für die Zukunft stellen.
Landkreis – Dialekte gelten als wertvolles Kulturgut, doch ihre Zukunft ist unsicher. Dr. Johann Wellner, Sprachwissenschaftler und Leiter des Projekts „Erfassung der mundartlichen Form der Ortsnamen in Bayern“, über verloren gegangene Sprache und warum die Mundarten im bayerischen Süden - trotz hochsprachlicher Einflüsse - Bestand haben könnte. Das Projekt ist von entscheidender Bedeutung: „In zwei Jahrzehnten lassen sich womöglich etliche Ortsnamen nicht mehr in ihrer genuinen Mundartlautung aufzeichnen.”
Herr Wellner, stirbt die Mundart langfristig aus?
Dr. Johann Wellner: Exakte Prognosen lassen sich für solch eine Frage kaum anstellen. Dass auf absehbare Zeit die Mundart ausstirbt, glaube ich nicht. Der deutschsprachige Raum zeichnet sich durch einen Reichtum an Varianten aus. Die werden sicherlich noch lange erhalten bleiben. Besonders im Süden und auch in Bayern selbst, wo die Mundarten wesentlich verbreiteter sind. Ich gehe eher davon aus, dass im bairischen Raum die Dialekte ihre früher auf kleinste Regionen beschränkten Merkmale verlieren. Übernommen werden könnten Elemente aus einem etwa durch die Medien verbreiteten umgangssprachlicheren Bairisch. Ich meine damit das Bairisch, wie man es im Fernsehen hört, das so vor ein paar Jahrzehnten aber kaum jemand tatsächlich gesprochen hat.
Schon jetzt verabschieden sich einige Sprachmerkmale des Bairischen…
Wellner: Was in großen Teilen bereits jetzt verloren geht, sind spezifische Ausdrücke aus der Landwirtschaft, Tierbezeichnungen oder die Namen von Nahrungsmitteln. Aber auch sogenannte bairische Kennwörter wie ‘Ertag’ (Dienstag; Anm. d. Red.), ‘Pfinztag’ (Donnerstag) oder die Personalpronomen ‘es’ und ‘enk’ werden spürbar ersetzt. Das geschieht aufgrund hochsprachlicher Einflüsse, durch deren Entsprechungen Dienstag und Donnerstag sowie ihr und euch („eich“) ersetzt werden.
Was war damals der Auslöser für das Projekt „Erfassung der mundartlichen Form der Ortsnamen in Bayern“? Welche Notwendigkeit sah man darin?
Wellner: Die Idee, alle Ortsnamen in Bayern in Mundart als Tondokument zu erfassen, besteht schon seit rund zwei Jahrzehnten. Sie wurde vom Verband für Orts- und Flurnamenforschung in Bayern (VOF) formuliert. Daraus entstand der Projektantrag – ursprünglich an das Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst und schließlich an das Staatsministerium der Finanzen und für Heimat – für ein landesweites Forschungsprojekt, das ohne die finanzielle Förderung durch den Freistaat nicht zu bewältigen wäre. Der gemeinsame Antrag von VOF und der Kommission für bayerische Landesgeschichte (KBLG) wurde Ende 2020 genehmigt. Das Projekt konnte damit starten. Hintergrund ist, dass nach und nach diejenigen Dialektsprecher aussterben, die noch in einer Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, in der sie muttersprachlich dialektal aufwuchsen. Damals gab es kaum Einwirkungen aus der deutschen Standardsprache. Das macht sich in der ganzen Mundart bemerkbar, deutlich jedoch auch bei der Aussprache der Ortsnamen.
Wieso?
Wellner: Die Mundart weicht oft erheblich von der verschriftlichten Form ab. Das ist darauf zurückzuführen, dass die amtlichen Formen häufig von Vermessern vor etwa 200 Jahren vorgenommen wurden, die nicht der hiesigen Mundart mächtig waren und die Namen so festgehalten haben, wie sie es verstanden haben. Nicht selten lassen diese Formen ganz andere und oft irreführende Rückschlüsse auf die Herkunft im Vergleich zu den Dialektvarianten zu. In letzteren hat sich eine meist quasi unverfälschte Weitergabe des Namens erhalten, die den regulären Lautentwicklungen der jeweiligen Mundart folgte. Mit dem sprachgeschichtlichen Wissen dieser Lautentwicklungen kann man somit auf die ursprüngliche Bedeutung des Namens kommen.
Das Projekt läuft nun seit rund vier Jahren: Wie zufrieden sind Sie bislang und wann wird das Projekt abgeschlossen sein?
Wellner: In Anbetracht der Tatsache, den ganzen Freistaat, das heißt das flächenmäßig größte Bundesland mit mehr als 13 Millionen Einwohnern und über 50000 für uns relevanten Ortsnamen zu erfassen, können wir zufrieden sein. Als unmittelbar nächste Phase steht der Abschluss der Erhebungen an. Im weiteren Verlauf sind alle Sprachaufnahmen schließlich auszuwerten und aufzubereiten. Das ist bereits jetzt in vollem Gang. Außerdem wird an der Internetplattform gearbeitet, auf der letztendlich Mundartformen von jedem Ort in Bayern – vom Einödhof bis zur Großstadt – anzuhören sind. Zum aktuellen Zeitpunkt endet die Laufzeit des Projekts Ende 2024.
Sprache ist doch vielfältiger und nicht nur auf Ortsnamen beschränkt?
Wellner: Sprache besteht freilich aus mehr Aspekten als nur die Ortsnamen in Mundart. Grundlegende Ebenen der Dialekte wurden aber bereits umfangreich etwa in den bayerischen Sprachatlanten erfasst. Noch länger laufen die Wörterbuchprojekte. Nicht zu vergessen sind zahlreiche Dissertationen und wissenschaftliche Arbeiten, die sich ständig neu mit allen Aspekten von Mundart und Sprache auseinandersetzen. Das Ortsnamenprojekt bildet eine Facette dieses Spektrums ab, dessen Abschluss aufgrund der demografischen Verhältnisse und sprachlichen Veränderungen aber akut eilt. In zwei Jahrzehnten lassen sich in manchen Regionen womöglich etliche Ortsnamen nicht mehr in ihrer unbeeinflussten Mundartlautung aufzeichnen. Die Ergebnisse des Projekts liefern Grundlagen für weitere Forschungsmöglichkeiten. In erster Linie wären das die Historischen Ortsnamenbücher von Bayern.
Welche methodischen Werkzeuge nutzen Sie zur Erfassung der mundartlichen Ortsnamen?
Wellner: Wir erheben die mundartlichen Ortsnamen mithilfe von Sprachaufnahmen mit Dialektsprechern. Es handelt sich dabei idealerweise um Sprecher, die der älteren Generation angehören. Sie sind meist in der Heimatgemeinde ansässig oder haben diese nie oder noch nicht lange verlassen. Für unsere Gewährspersonen sollte die Mundart quasi die Muttersprache darstellen. Bei Menschen, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, ist das am ausgeprägtesten. Es lassen sich dann am wahrscheinlichsten Aussprachevarianten vorfinden, die keinem Einfluss aus Hoch- oder Umgangssprache unterliegen. Die Gespräche werden auf einem Gerät aufgezeichnet und die Tondateien von Projektmitarbeitern aufbereitet und wissenschaftlich begutachtet.
Wie schwierig ist es, Gewährspersonen für die Tonaufnahmen zu finden, die mit verlässlichen Informationen dienen können?
Wellner: Schwierig nicht unbedingt, aber manchmal etwas zeitaufwendig. Erfahrungsgemäß gibt es überall Mundartsprecher, die sich freuen, wenn ihr Dialekt in einer Gelegenheit wie dieser eine so bedeutende Rolle spielt. Sie leisten damit ja einen Beitrag zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes. Diese Leute muss man aber erst für jede Gemeinde in Bayern ausfindig machen. Einige haben sich im Laufe der Zeit von selbst auf Zeitungsartikel oder Fernsehberichte über das Projekt hin gemeldet. Die meisten Kontakte ergeben sich durch die Zusammenarbeit mit den jeweiligen Heimatpflegern vor Ort, oft aber schon durch persönliche Verbindungen der Exploratoren in der Region.
Sie hatten anfangs Schwierigkeiten, Exploratoren zu finden, etwa für den Berchtesgadener Raum. Wie sieht es da heute aus? Ist Bayern abgedeckt?
Wellner: Ähnlich wie bei der Sprechersuche gestaltet sich die Suche nach Exploratoren. Die geeigneten Personen zu finden, die nicht nur Lust, sondern auch Zeit für die Aufnahmen haben, dauert oft noch länger. Es ist mit wesentlich mehr Aufwand verbunden, eigenständig mehrere Aufnahmen durchzuführen. Nach und nach konnten wir mithilfe der Kreisheimatpfleger oder lokale Heimatvereine Interessenten ausfindig machen – auch für den Berchtesgadener Raum. Es sind Menschen aller fachlichen Hintergründe für die Erhebungen verantwortlich: Von Professoren der Sprachwissenschaft bis hin zu Heimatforschern, Studenten einschlägiger Fächer oder an der Mundart interessierter Rentner.
Welche Erkenntnisse konnten Sie bislang aus dem Projekt schöpfen? Gab es besonders überraschende ‘Funde’ in Sachen Ortsnamen?
Wellner: Im Projekt erfolgt keine unmittelbare Erforschung der Namen. Es liefert die langfristigen Grundlagen dafür. Erst im Laufe der Zeit wird der wissenschaftliche Wert der Erhebungen deutlich, wenn über die Mundartform die Herkunft des Ortsnamens erklärt werden kann. Es fällt aber immer wieder bei der Durchsicht der Aufnahmen auf, dass nicht wenige Ortsnamen ganz andere Bezeichnungen in der Mundart tragen. Die amtliche Form findet keinerlei Verwendung. So werden häufig immer noch Hausnamen genutzt oder der Ort nach einem Kirchenpatronat benannt.
Ist es denkbar, das Projekt fortzusetzen? Oder anders gefragt: Gibt es eine Zukunft für die Dialektforschung in Bayern?
Wellner: Ob das Projekt in anderer Form eine Fortsetzung findet, das wird sich zeigen. Mit der Erhebung der Ortsnamen in Mundart ist die Sache im Grunde abgeschlossen. Jetzt lassen sich diese Formen nämlich noch hören. Würde man in fünfzig Jahren neue Aufnahmen machen, werden sich keine neuen und nennenswerten Erkenntnisse ergeben. Außer, dass vielleicht ein bedeutender Teil der Dialektformen gar nicht mehr greifbar ist. Für die Dialektforschung allgemein gibt es in Bayern relativ sicher eine Zukunft. Bayern ist ein Land, in dem Mundart noch immer und auch auf absehbare Zeit eine gesellschaftlich wichtige Rolle spielt. Darum bleibt auch ein wissenschaftlicher Blick darauf von Relevanz. Auch, wenn grundlegende und großflächige Projekte wie die Sprachatlanten von Bayern inzwischen abgeschlossen sind. Zu erwähnen sind etwa die Wörterbücher, wie das Bayerische Wörterbuch, die wohl noch mehrere Jahrzehnte bis zum Abschluss benötigen. Was wiederum verdeutlicht, wie reichhaltig und erhaltenswert unsere Dialekte in Bayern sind.
kp