Motivsammlerin aus Traunstein
„Wer fotografiert, nimmt die Welt anders wahr“: Fotografin Anna Aicher im Interview
Anna Aicher hält in ihren Bildern Momente fest, die zeigen, wie Tradition heute von den Jungen gelebt wird. Ihre preisgekrönten Fotos erlauben einen direkten Blick auf die Schnittstelle zwischen bayerischem Brauchtum und Jugendkultur. Sie selbst bezeichnet sich als Sammlerin – die 29-Jährige sammelt Eindrücke von Menschen.
von Raphaela Kreitmeir
Ob es am Umgang mit dem Licht liegt oder an der Fokussiertheit auf die Person, die sie porträtiert, kann ich nicht sagen. Aber als ich das erste Mal Bilder von Anna Aicher gesehen habe, spürte ich, dass die Fotografin einen ganz eigenen Stil hat. Einen Stil, der Eindruck hinterlässt und etwas auslöst: eine Mischung aus Neugier, Ergriffenheit und Interesse. Wer sind die Abgebildeten und wer ist die Frau, die den Porträtierten mit ihren Fotos so nah kommt? Warum konzentriert sich eine junge Fotografin, die in Berlin und München lebt, auf Traditionsvereine wie die Ranggler, die als eine der letzten Männer-Bastionen eine archaische Form des Ringens kultiviert? Also rief ich bei ihr an und wir verabredeten uns zum Interview.
Woher kommt deine Begeisterung für Fotografie?
Ich glaube, ich wollte immer schon etwas Kreatives machen. Und als ich als Kind von meinem Onkel eine Kamera geschenkt bekommen habe, war mir sofort klar: Das ist für mich die Form, wie ich mich ausdrücken kann. Damals entstand auch meine Liebe zur analogen Fotografie, obwohl die ersten digitalen Kameras schon auf dem Markt waren. Aber analog zu fotografieren schult die Konzentration, man fokussiert sich, versucht genau den richtigen Moment zu treffen. Das ist ein bisschen das Gegenteil von der Beliebigkeit, mit der digitale Fotos entstehen.
Aufgewachsen bist du bei Traunstein, das Fotografenhandwerk hast du in Berlin gelernt. Warum so weit weg von zu Hause?
Ich stamme aus einem kleinen Weiler mit sechs Häusern, alle, die dort leben, sind mit mir verwandt. Das war und ist auf der einen Seite wunderschön, auf der anderen Seite hatte ich immer schon das Bedürfnis, in einer großen Stadt zu leben. Nach der Matura, die Schule habe ich ja in Österreich besucht, suchte ich mir einen Praktikumsplatz in Berlin, weil mich die Stadt total fasziniert hat. Allerdings war ich bis zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal dort.
Fühlte sich Berlin wie ein Kulturschock an?
Komplett neu für mich war es, dass ich auf einmal von Menschen umgeben war, die alle ihre ganz eigene, kreative Vorstellung vom Leben hatten. Daheim war ich mit meinem Lebensentwurf eher Exotin, in Berlin war ich auf einmal eine von vielen. Diesen Switch fand ich toll, ebenso wie die Masse an Menschen, mit denen man es in Berlin zu tun hat. Am Land kennt jeder jeden, man ist vernetzt, was auch Sicherheit schenkt. In der Stadt ist man erst mal allein und wenn man jemanden kennenlernt, zählt nur das Jetzt. Es gibt keine Vorurteile über dich, weil deine Eltern so oder anders sind, weil die Nachbarn das erzählen oder der Vereinsvorsitzende jenes. Diese Geschichtslosigkeit bei neuen Begegnungen habe ich als Möglichkeit wahrgenommen, mich entwickeln zu können.
Wie hat dich das Aufwachsen auf dem Land geprägt?
Ich habe Wesentliches gelernt, wie die Wertschätzung für die Leistung zurückliegender Generationen. So heißen die Müller in der Mühle Eizing seit Ende des 16. Jahrhunderts Aicher. Das muss man sich mal vorstellen. Ein Dreißigjähriger Krieg, zwei Weltkriege, zahllose Hungersnöte, politische Systemwechsel und die Vorfahren schaffen es, die Mühle fortzuführen. Mein Onkel Hans hat die Familiengeschichte zusammengetragen und was die Ahnen geleistet haben, hat mich bleibend beeindruckt. Was mich noch ganz stark geprägt hat, ist die Achtsamkeit gegenüber der Natur und das Interesse an Menschen. Ich habe mich als Kind viel selbst beschäftigt, die Nachbarskinder waren ja mindestens zwei Kilometer entfernt. Und wenn ich nicht mit der Kamera durch Wälder und Felder gezogen bin, habe ich Fotos von Menschen gemacht. Daher war ich als Kind mit meiner Kamera unterwegs, habe Menschen fotografiert und versucht, ihr Leben in einen Kontext zu stellen, also festzuhalten, wo und wie sie leben. Ich habe sogar eine kleine Dorf-Zeitschrift produziert, weil ich schon immer den Wunsch hatte, nicht über etwas nur zu reden, sondern etwas zu machen.
Entstanden damals im Kopf die Motive, die du in deiner Ausstellung „Like Father, Like Son“ im Kulturforum Klosterkirche in Traunstein gezeigt hast?
Generell interessiert es mich, das Individuum in der Gemeinschaft darzustellen, daher stehen meist Einzelcharaktere im Fokus meiner Bilder. Was damals sicher entstanden ist, ist eine Form von Sammelleidenschaft, die bei uns in der Familie liegt. Mein Onkel hat für die Mühlenchronik Daten und alte Bilder gesammelt und ich habe mit der Kamera Gesichter und Momente gesammelt, die mir begegnet sind.
Du stellst deine bayerische Heimat in den Mittelpunkt der Bilder. Wie kamst du auf die Idee?
Durch den ständigen Wechsel zwischen Großstadt und Land erschienen Dinge, die für mich alltäglich waren, plötzlich besonders und exotisch. Grade alte Traditionen und Rituale, die sich über Jahrhunderte nicht verändert haben, stehen im Mittelpunkt meiner fotografischen Arbeit. Für mich war die Fotografie eine Möglichkeit zu verstehen, woher ich komme, und vielleicht auch eine Möglichkeit, den Kontakt zu den Menschen auf dem Land nicht zu verlieren.
Frei übersetzt lautet der Titel der Ausstellung „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“. Entspricht das deiner Erfahrung?
Wo kommt etwas her – wo geht etwas hin: Das sind Fragen, die ich mit Kamera zu beantworten versuche. Ich fotografiere viel in Vereinen und da ist eine Kontinuität zu beobachten – oder eher der Wunsch, dass alles immer gleich weitergeht. Das tut es zum Teil, so ist mein Lieblingsverein, der Rangglerverein, nach wie vor männlich dominiert.
Welche Rolle spielen die Themen Tradition und Aufbruch in deiner Ausstellung und in deinem Fotobuch?
Eine große. Mich interessieren Vereine, weil sich in dem Miteinander Traditionen erhalten und das Individuum in der Gruppe aufgeht. Traditionen schenken Sicherheit und schaffen eine soziale Wohlfühlatmosphäre. Manchmal ist so eine Gruppe aber auch wie ein geschlossener Kosmos, der keine Einflüsse von außen will oder braucht. Durch meine Fotografien mache ich einzelne Charaktere in diesen Gruppen sichtbar.
Warst du früher selbst in einem Verein?
Ich wollte nie in einen der Traditionsvereine, vielleicht fehlte mir der direkte Zugang, weil meine Eltern auch in keinem waren. Aber ich habe die Aktivitäten wahnsinnig gerne als Zuschauerin beobachtet. Selbst Mitglied war ich im Fußballverein, der sich damals bereits – im Gegensatz zu den meisten traditionellen Vereinen – auch für Mädchen öffnete.
Daher „Like Father, Like Son“ und nicht „Like Mother, Like Daughter”?
Meine meisten Protagonisten finde ich in Traditionsvereinen und diese waren und sind in Bayern meist fest in Männerhand, aber vielleicht ändert sich das ja.
Ein weiterer Bilderzyklus von dir heißt „Beatschuppen” und porträtiert junge Menschen in der Phase zwischen Abschied aus der Kindheit und Aufbruch ins eigene Leben. Was macht diese Phase so interessant?
So ein Beatschuppen ist auf dem Land meist ein Bauwagen, der jungen Menschen den Freiraum gibt, sich selbst auszuprobieren. Sie treffen sie sich an einem ganz entscheidenden Punkt in ihrem Leben: Wenn sie der Rolle als Kind schon entwachsen, aber in ihrem Erwachsenenleben noch nicht angekommen sind. Die Übergangsphase finde ich absolut spannend, weil so viel möglich scheint.
Was ist Heimat für dich?
Ich bin sehr dankbar, dass es diesen Ort bei Fridolfing gibt, an dem meine Familie wohnt und an dem ich daheim bin, aber prinzipiell ist Heimat für mich dort, wo man sich aufgehoben fühlt und man wohlmeinenden Menschen begegnet.
Anna Aicher
geboren 1993 in Traunstein
2013 - 2016: Ausbildung zur Fotografin beim Lette-Verein in Berlin
2015: Auszeichnung der Magnus-Hirschfeld-Stiftung
2016: Lette Design Award
2022: nominierte Förderpreisträgerin der Landeshauptstadt München
seit 2018: Mitarbeiterin der Galerie FOTOHOF Salzburg
12/22 - 01/23: „Like Father, Like Son“: Einzelausstellung im Kulturforum Klosterkirche Traunstein, zu der ein Fotobuch erschienen ist
2023: Meisterklasse Fotografie der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin
Anna Aicher arbeitet als freie Dokumentar- und Porträtfotografin. Fotos von ihr sind unter anderem im SZ-Magazin und in der ZEIT erschienen.
Wie näherst du dich deinen Modellen, also den Menschen, die du fotografierst?
Immer wenn ich in der Zeitung etwas über Jugendgruppen und Vereine gelesen habe, bin ich hingefahren. Manchmal bin ich auch Mopeds gefolgt, wenn viele davon in eine Richtung fuhren. So habe ich beispielsweise für mein Projekt „Beatschuppen“ Orte gefunden, wo Jugendkultur gelebt wird. Und während ich lange beobachte, was dort stattfindet, fallen mir bei einer Art innerem Casting bestimmte Menschen ganz besonders auf. Diese spreche ich dann an, stelle mich vor und verabrede mit ihnen, was ich wie fotografieren möchte.
Ist für dich Fotografie eine Form von Dialog?
Auf jeden Fall. Indem ich auf die Menschen zugehe, beginne ich den Austausch, der mit dem Fotografieren noch nicht endet. Ich tausche mit den Menschen ja Kontaktdaten aus, schicke ihnen später die Fotos. Und bei der Ausstellung in Traunstein habe ich dann auch viele persönlich wieder gesehen, was ganz besonders schön war.
Hilft der Blick durch die Kamera, Menschen, Situationen und Orte deutlicher wahrzunehmen?
Ganz sicher. Wer fotografiert, nimmt die Welt anders wahr, sieht Details, Hintergründe, Lichtverhältnisse und noch viel mehr. Das ist in Ansätzen auch derzeit bei den Jungen zu spüren, die aufgrund der Handykameras und Social Media viel fotoaffiner sind als die Generationen zuvor.
Verändern sich Menschen dadurch, dass eine Kamera auf sie gerichtet wird?
Die meisten ja. Das ist mir besonders beim Beatschuppen-Projekt aufgefallen. Manche haben richtiggehend angefangen zu posen, als ich die Kamera auf sie richtete. Das fand ich interessant und für das Projekt total passend, denn Posing und Selbstinszenierung sing ja auch Teil der Jugendkultur.
Mehr Infos unter www.anna-aicher.com
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