Schrebergärten auf „Alzchem“-Gelände werden aufgelöst
Zwischen Schockstarre und Trauer: Trostberger räumen ihre Häuschen aus
Verschlossene Fensterläden, verwaiste Gärten, leere Kinderschaukeln, eine weiß-blaue Fahne wiegt einsam im Wind. Die Schrebergärten auf dem Gelände der „Alzchem“ scheinen im Winterschlaf, doch die Realität zeichnet ein düsteres Bild: Die Siedlung wird aufgelöst. Ein Schock für die betroffenen Besitzer der Häuschen.
Trostberg - „20 Jahre lang bin ich hier - und nun muss ich alles ausräumen“, erklärt Aslan Zahir, während er gerade kleinere Dekorationen auf einer Sackkarre zu seinem Wagen fährt. Dekorationen, an denen jahrzehntelange Erinnerungen haften.
„Ein Stück Lebensgefühl geht verloren“, fährt der 78-Jährige fort, der viel Geld und Muse in sein bescheidenes Häuschen gesteckt hat. Oft hat er Freunde eingeladen, gefeiert, gelacht, gelebt. Für Zahir, der in einer kleinen Wohnung in Trostberg ohne Garten lebt, war das kleine Häuschen in der Siedlung auf dem Werksgelände der „Alzchem“ südlich der Hauptverwaltung ein „Segen“, eine „Bereicherung“ für seinen Lebensabend.
Statt Schrebergärten künftig Parkplätze und PV-Anlagen
Nun müssen die Eigentümer bis 15. Mai ihre Plätze räumen. Die Kündigung erhielten sie schriftlich im September. „Nächstes Jahr kommt der Bagger, macht alles dem Erdboden gleich und es entstehen Parkplätze mit Photovoltaik-Flächen für Solarstrom. Wir sind alle traurig, viele schimpfen. Einige haben ihre Hütten schon verkauft und der Siedlung endgültig den Rücken zugekehrt“, erzählt Zahir mit gesenktem Kopf.
Auf den 60 Parzellen neben der Bahnlinie und oberhalb der Alz hat auch Jürgen Rössner seit 27 Jahren eine Hütte: Ziemlich massiv, betoniert, mehrfach renoviert und aufgerüstet, mit robustem Industriedach - alles selbst gebaut. Im Inneren finden sich noch Fotos neben dem Doppelbett für die Enkelkinder, es gibt eine kleine Küche, Dusche, Waschbecken und WC.
„Im Grunde hätte man da wohnen können“, erzählt er uns, während sein Blick wehmütig über die dunkelbraun gestrichenen Holzlatten schweift. Die letzten Monate habe er noch einiges investiert, sich einem ordentlichen Heckenschnitt angenommen, die Frau habe das Beet erst frisch bestückt. „Wäre die Kündigung ein bisserl eher gekommen, hätten wir nicht mehr so viel Geld und Mühe in das Grundstück gesteckt“, erklärt der Trostberger nüchtern.
„Das hier sollte mein Ruhepol werden“
Aufgewachsen in der Region stellte der Schrebergarten für Rössner eine Leidenschaft dar. „In den 50er-Jahren kannte die Anlage jeder. Mit dem Kauf der Hütte erfüllte sich ein Lebenstraum für mich. Daran hängt mein Herzblut. In zwei Jahren gehe ich in Rente, das hier sollte mein Ruhepol werden“, sagt Rössner mit gesenktem Blick. „Es war ein Schock, als ich das Kündigungsschreiben in den Händen hielt.“
Eichkätzchen, die ihre Kletterkünste auf dem Nussbaum beweisen, Igel, die in der Dämmerung schnarrend nach Insekten suchen und ein Siebenschläfer, der es sich in der Wand der Hütte gemütlich gemacht hat. Einmal hat ihn Rössner sogar eingerollt im Besteckkasten vorgefunden. Die Tierwelt hier sei einzigartig. Ebenso sei ihm noch nie eine Pflanze oder ein Strauch eingegangen.
Er kann nicht verstehen, weshalb Flora und Fauna nun weichen sollen. Doch das Ergebnis einer routinemäßigen Untersuchung der im Altlastenkataster registrierten Flächen zeichnet ein anders Bild: Die Siedlung diente in den 1940er und 1950er Jahren zur Ablagerung von Hausmüll, Industrieabfällen sowie Kalk aus der Kalkstickstoffverarbeitung. Der Boden sei über die zulässigen Grenzwerte hinaus mit Schadstoffen belastet.
„Weh tut es uns allen“
Um die Schrebergärten weiterhin uneingeschränkt nutzen zu können, sei ein kompletter Austausch des Bodens nötig, erklärt „Alzchem“ in einer Pressemitteilung die Hintergründe der Auflösung. Die Folge: eine vollständige Räumung des Geländes samt Rückbau der Gartenhäuschen und -lauben und Kosten in Millionenhöhe.
Viele haben ihre Hütten schon verlassen, weiß Rössner. Sein Nachbar gegenüber habe einen „Wahnsinnsgarten“ über Jahre hinweg mit Hingabe gehegt und gepflegt. „Als die Nachricht der Kündigung kam, sind ihm die Tränen heruntergelaufen. Er war bei den Ersten, die das Areal sofort räumten. Weh tut es uns allen.“
Wehmutstropfen schwingen nicht nur bei den Eigentümern der Häuschen mit. „Wir haben gerade darüber gesprochen“, erklären drei Spaziergängerinnen, als wir auf sie treffen. Alle drei wohnen zwar inzwischen nicht mehr in der Alzstadt, sind aber hier aufgewachsen. Sie kennen die Schrebergärten von Kindesbeinen an.
„Die Siedlung gab es schon immer. Nicht nur für Rentner waren sie ein Rückzugsort, auch Familien mit Kindern haben sich hier eine kleine Existenz aufgebaut“, erklärt eine der Damen und wird von ihren beiden Begleiterinnen kräftig bestärkt: „Furchtbar ist das. Wo sollen denn die Leute hin, die sonst nur eine kleine Wohnung ohne Terrasse oder Balkon haben? Wir kennen keinen in Trostberg, der das gut findet - außer vielleicht diejenigen, die das entschieden haben.“
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