Expertengespräch mit Rechtsmediziner Dr. med. Fritz Priemer
„Es ist absolut richtig, Cannabis zu legalisieren“: Nüchterne Kiffer am Steuer bestrafen?
Gras, Marihuana, Dope, Hanf: viele Bezeichnungen für ein und dasselbe Kraut. Nun ist es beschlossen: In Deutschland wird Cannabis legalisiert. Endlich, sagen die einen, gesundheitsgefährdend und verantwortungslos, sagen die anderen. Wir haben mit dem Rechtsmediziner Dr. med. Fritz Priemer über die Droge gesprochen: Wie kriminell sind Kiffer?
Traunstein – Die Sonne scheint, im Autoradio läuft Bob Marley und in Gedanken ist man schon am Lieblingsbadesee angekommen. Dann aber ein abruptes Ende der Fahrt: Die Polizei am Straßenrand winkt, bitte rechts ranfahren. Führerschein, Fahrzeugpapiere, Ausweis: Und dann - bitte einmal aussteigen und einen Alkohol- und Drogentest machen. Das Hirn beginnt zu rattern: Habe ich nicht gestern bei der Gartenparty am Joint gezogen? An dieser Stelle verabschiedet man sich am besten schon mal innerlich von seiner Fahrerlaubnis.
„Der Anteil der Verkehrsteilnehmer, die wirklich, nach meiner Erfahrung als langjähriger Sachverständiger, nicht mehr in der Lage waren, ein Fahrzeug sicher zu führen aufgrund des alleinigen Einflusses von Cannabis, ist sehr gering. Das macht vielleicht fünf bis zehn Prozent aus.“ Dr. med. Fritz Priemer ist Rechtsmediziner. Seine Expertise ist auch beim Amts- und Landgericht Traunstein oft gefragt. Priemer erklärt zu Beginn unseres Gespräches seinen Beruf:
Fahrtüchtig? Schuldfähig? Der Rechtsmediziner weiß die Antwort
„Der Rechtsmediziner ist ein Arzt, der eine Facharztausbildung zum Rechtsmediziner macht und insofern, so würde ich das sagen, als medizinischer Dolmetscher eingesetzt wird.“ Ein wesentlicher Aufgabenbereich bei seiner Arbeit sei es, vor Gericht Stellung zur Fahrtüchtigkeit oder Schuldfähigkeit eines Angeklagten zu beziehen. Dabei, so Priemer, ginge es immer um „die Situation, in der sich dieser Straftatbestand ereignet hat.“ Und so stellt sich oft auch die Frage: War der Fahrzeuglenker trotz des Nachweises von THC im Blut, dem berauschenden Wirkstoff in der Cannabispflanze, noch fahrtüchtig?
Ungleichbehandlung zwischen Kiffern und Alkoholtrinkern
Bei Alkohol ist das klar geregelt. Im Paragraf 24a der Straßenverkehrsordnung steht: „Ordnungswidrig handelt, wer im Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er 0,25 mg/l oder mehr Alkohol in der Atemluft oder 0,5 Promille oder mehr Alkohol im Blut oder eine Alkoholmenge im Körper hat.“ Und da beginnt, laut Priemers Meinung, die Ungleichbehandlung. Denn: Im zweiten Absatz des Gesetztes steht, dass auch all jene eine Ordnungswidrigkeit begehen, die „unter der Wirkung eines in der Anlage zu dieser Vorschrift genannten berauschenden Mittels im Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug führen“. In der Anlage aufgeführt ist neben anderen Drogen auch Cannabis.
Gefahrengrenzwert versus analytischem Grenzwert: Nulltoleranz bei THC
„Das ist eine Ungleichbehandlung, weil beim Alkohol ist es ein Gefahrengrenzwert. Ab 0,5 Promille kann man sagen, dass das Unfallrisiko um den Faktor drei bis fünf erhöht ist.“ Bei Cannabis Konsum, so Priemer, herrsche dagegen Nulltoleranz: Ein Mikrogramm THC pro Liter Blut im Körper reicht hier aus, um mit einem Bußgeld belegt zu werden: „Das ist kein Gefahrengrenzwert, sondern der Wert, ab dem man sicher sagen kann, der hat im Vorfeld Cannabis konsumiert, ohne dass man im Hinblick auf die Fahrsicherheit irgendwas sagen kann.“
Und Priemer hat in seiner Vergangenheit sogar selbst geforscht, weil ihn diese Ungleichbehandlung zwischen Alkohol- und Cannabiskonsum stört: „Ich bin absoluter Anhänger des Rechtsstaates, denn dieser ist die Grundlage unseres demokratischen Systems, und da ist jeder vor dem Gesetz gleich.“ Als er noch beim Institut für Rechtsmedizin gearbeitet hat, erzählt er, habe ihm sein Professor ein Gerät zur Messung der Pupillenfunktion des menschlichen Auges mitgegeben:
Lichtstarre Pupillen nach Kiffen? Eine nicht verifizierbare Lehrmeinung
„Damals war die herrschende Lehrmeinung die, dass Fahrzeugführer, bei denen Cannabis im Blut war und der Polizeibeamte angegeben hat, der hatte weite, lichtstarre Pupillen, fahruntüchtig seien. Es bestünde somit eine Kausalität zwischen dem THC im Blut und dem Effekt einer lichtstarren Pupille.“ Seine eigene Studie, in der Priemer die Pupillen von mehreren Kiffern analysierte, ergab aber, dass dieser Effekt so nicht eingetreten ist. Er fand im weiteren Verlauf auch keinerlei wissenschaftlich aussagekräftigen Studien, die diese Lehrmeinung gestützt hätten.
„Es muss dieser analytische Grenzwert überdacht werden, also aus meiner Sicht, das kann man so nicht mehr lassen.“ Schließlich sei jemand, der am Abend einen Joint raucht, und am nächsten Tag in sein Auto steigt, in der Regel schon fahrtüchtig. Auch dann, so Priemer, wenn man im Blut durchaus noch Spuren von Cannabis analytisch nachweisen könne. Die Wirkung von Cannabis hält laut der Stiftung „Sucht Schweiz“ in der Regel nur vier Stunden an.
14 Kiffer und ein Fahrradparcours
Kiffen für die Forschung: Priemer konnte sich als Beobachter eines Versuches auch davon überzeugen, dass selbst akut bekiffte und subjektiv stark berauschte Versuchspersonen praktisch kaum in ihrem Leistungsvermögen eingeschränkt sind. Man habe 14 Freiwillige innerhalb weniger Stunden drei Joints rauchen lassen. Danach, so Priemer, habe man sie auf Fahrrädern mit Stützrad durch einen Parcours geschickt, um deren Fahrfähigkeit zu testen: Bälle, die über die Fahrbahn kugeln, enge Spiralen, Lichteffekte: Und keiner hatte relevante Einschränkungen, berichtet Priemer über die Studie, die auch von Kurt Rüdiger Maatz, einem ehemaligen Richter am Bundesgerichtshof im Fachmagazin „Blutalkohol“ veröffentlicht wurde.
Für die Legalisierung von Cannabis
Fritz Priemer ist für die Legalisierung von Cannabis. Sicherlich sei die Substanz gesundheitsschädlich und keiner wolle Verkehrsteilnehmer, die so berauscht sind, dass sie nicht mehr fähig sind, ein Fahrzeug zu führen. Aber Alkohol sei auch gesundheitsschädlich und Ursache vieler Unfälle. Und im Gegensatz zum Alkoholrausch, der sehr enthemmend wirken könne, seien dem Rechtsmediziner keinerlei Fälle von Gewaltstraftaten wie Körperverletzung im Zusammenhang mit ausschließlichem Konsum von Cannabis bekannt. Für Priemer steht fest: „Es ist absolut richtig, Cannabis zu legalisieren.“
So würde man Cannabiskonsumenten endlich entkriminalisieren. Denn, wer derzeit lieber einen Joint raucht, als ein Bier trinkt, muss einen Drogendealer besuchen. Und dann gibt es bei derselben Person auch Koks, Amphetamin oder Heroin. So kommt man dann im schlimmsten Fall auch mit härteren Drogen in Kontakt.
Für alle Gartler: künftig sollen auch drei Cannabispflanzen erlaubt sein
„Das Ergebnis ist der Schwarzmarkt, die organisierte Kriminalität, dass sich die Menschen kriminalisieren, dass die Grenze zwischen legalem und illegalem Verhalten verschwimmt.“ Priemer geht davon aus, dass mit der Legalisierung der Schwarzmarkt zwar nicht verschwinde, aber doch deutlich geschwächt werden könnte. Bis zu drei Cannabispflanzen kann man demnächst selbst anbauen und eine Menge von bis zu 25 Gramm ist dann straffrei.
Häufigste Ursache für Verkehrsunfälle im Zusammenhang mit Drogen: Alkohol
Priemer geht auch davon aus, dass es zur Einführung von Grenzwerten, ähnlich denen bei Alkohol, kommen wird. In anderen Ländern wäre dies geschehen: zum Beispiel dem Bundesstaat Colorado in den USA. Hier ist der Grenzwert zur Fahruntüchtigkeit ebenso wie in Kanada auf fünf Mikrogramm pro Liter (µg/l) festgelegt worden. Die Häufigkeit von Cannabis als alleinige Ursache schwerer Unfälle sei in den Ländern, in denen Cannabis legalisiert wurde, jedenfalls nicht angestiegen. Hauptverursacher von Verkehrsunfällen, bei denen berauschende Mittel im Spiel waren, ist laut Statistischem Bundesamt mit 84 Prozent im Jahr 2021 der Alkohol gewesen.