Unfallfahrer wegen versuchten Mordes vor Gericht
Unfallopfer kennt Angeklagten von klein auf: „Er hat mich einfach nicht gesehen“
Traunstein, Ampfing – Vor knapp einem Jahr wurde auf der MÜ26 ein schwer verletzter, damals 23 Jahre alter Mann aufgefunden. Er war überfahren und liegengelassen worden, ohne dass ein Notruf abgesetzt worden wäre. Der vermeintliche Täter steht nun wegen versuchten Mordes vor Gericht. Am 29. Juni soll voraussichtlich das Urteil fallen.
Update, 14.43 Uhr - Angeklagter bedankt sich bei Ersthelferin
Dann wird die Zeugin in den Gerichtssaal gerufen, die den überfahrenen E. am Unfallort auffand. Auf dem Weg zum Frühdienst soll sie den Verletzten auf der Straße liegend gesehen und einen Notruf abgesetzt haben. Dem Zufall ist geschuldet, dass die Zeugin Kinderkrankenschwester ist und Erfahrung mit der Arbeit auf Intensivstation vorweisen kann. Sie gibt an, dass E. am Kopf blutete, bewusstlos war, aber seine Beine bewegte. Die Zeugin könne aber nicht schließen, dass das Unfallopfer sich auf der Straße bewegt habe. Die Krankenschwester sagt, sie habe um 5.12 Uhr den Notruf abgesetzt. Zu dem Zeitpunkt sei es schon taghell gewesen.
„Mein erster Gedanke, als ich da was liegen sah, war: Schon wieder ein Reh“, so die Krankenschwester. Es habe keinen Gegenverkehr gegeben, bis ein Bus mit zwei jungen Männern kam, welche die Zeugin gebeten habe, mit ihr an der Unfallstelle zu warten. Nach Aussage der Zeugin hat der Angeklagte Gelegenheit, das Wort zu ergreifen und nutzt diese, um sich bei der Frau zu bedanken. „E. ist ein sehr guter Spezl von mir und ich möchte mich bei Ihnen bedanken, dass sie ihm so gut geholfen haben. Es gibt nichts Schöneres wie das, dass es ihm jetzt wieder so gut geht.“
Unfallopfer sagt als nächster Zeuge aus
Als nächster Zeuge sagt das Unfallopfer selbst aus. Der 24-Jährige hat die schweren Verletzungen nach eigenen Angaben ohne große Beeinträchtigungen überstanden. Bei dem Fest in Salmanskirchen habe E. beim Aufräumen geholfen und dann versucht jemanden anzurufen, um abgeholt zu werden. An den Unfall selbst kann sich E. nicht erinnern. Erst im Krankenhaus habe E. erfahren, dass sein Bekannter, der angeklagte S., ihn überfahren haben soll. S. sei dann auch zu ihm auf Besuch gekommen und habe sich für die Tat entschuldigt.
„Jeden Tag froh, wenn ich wieder arbeiten darf“
„Ich bin jeden Tag froh, wenn ich wieder arbeiten darf“, sagt E. Nach dem Unfall habe er vier Wochen im Krankenhaus und drei Wochen auf Reha verbringen müssen. Mit dem Angeklagten habe das Unfallopfer einen Täter-Opfer-Ausgleich in Höhe von 15.000 Euro vereinbart. E. habe keine weiteren Forderungen gegen den Angeklagten. „War das für Sie keine Frage: warum fährt er mich an?“, fragt der Vorsitzende Richter Volker Ziegler. E. hat dazu keine Antwort. Er unterhalte sich mit dem Angeklagten nur darüber, wie es ihnen beiden gehe, aber nicht über die Gründe für den Unfall. Auch auf die Frage: „Wollen Sie nicht wissen, warum er Sie einfach liegen gelassen hat?“ hat E. keine andere Antwort. „Meiner Ansicht nach war es der Schock“, sagt er.
„Er hat mich einfach nicht gesehen“
Das große Verständnis des Unfallopfers gegenüber dem Angeklagten scheint nicht nur die Richter und Schöffen aufhorchen zu lassen. „Waren Sie denn einmal böse auf ihn?“, fragt auch Staatsanwalt Merkel. „Es hilft nichts, wenn S. dafür lange Zeit ins Gefängnis muss“, antwortet E., „er hat mich einfach nicht gesehen.“ Auch der rechtsmedizinische Sachverständige Priemer Fritz fragt genauer nach, ob das Unfallopfer nach der wundersamen und gänzlichen Genesung keine bleibenden Schäden, Schmerzen oder Narben entstanden sind. Auf eine Nachfrage des Verteidigers, warum E. sein Recht als Nebenkläger aufzutreten nicht wahrnehme, sagt E.: „S. hat es mir vorgeschlagen, aber das ist kein Thema. Für mich ist wichtig, dass ich wieder gesund bin und dass S. wieder zu Hause ist.“
Nach der Zeugenaussage des Unfallopfers ergreift der Angeklagte noch einmal das Wort und entschuldigt sich bei ihm. „Es tut mir so leid. Ich wünsch’ Dir, dass Du wieder ganz normal arbeiten kannst und alles.“
+++Am 12. Juni wird die Verhandlung fortgesetzt. innsalzach24.de berichtet auch dann wieder live aus dem Gerichtssaal.+++
Update, 12.06 Uhr - Angeklagter hielt Aufprall für Wildunfall
Als das Unfallopfer E. den 26-Jährigen in der Untersuchungshaft besuchte, habe er laut dem Angeklagten gesagt: „Das kriegen wir schon hin, mach dir keinen Kopf.“ Das Opfer und dessen Familie hätten den Angeklagten die ganze Zeit unterstützt. Zu seinen Trinkgewohnheiten befragt, sagt der Angeklagte, dass er unter der Woche keinen Alkohol trinke und allgemein nicht so viel weggegangen sei. In den zwei Monaten vor dem 23. Juli 2022 sei er öfter von Freunden überredet worden, mitzukommen und öfter auch Fahrer gewesen. Richter Ziegler möchte wissen, wie viel Bier und Schnäpse der Angeklagte beim Weggehen im Normalfall getrunken habe. Genaue Angeben erhält der Vorsitzende Richter darauf hin nicht: „Aber nach sechs Halbe ist es schon so, dass man es richtig kennt“, so der 26-Jährige.
Lauten „Schepperer“ wahrgenommen
Verteidiger Dr. Adam Ahmed verliest eine Einlassung seines Mandanten, in der es heißt, dass der Angeklagte am fraglichen Tag eigentlich gar nicht auf das Volksfest gehen wollte, aber dann doch auf einen Sprung vorbeikommen wollte. Er habe den ganzen Tag nichts gegessen, erst auf dem Volksfest. Als er dann nach Hause fuhr, habe der Angeklagte „nicht nach einem Menschen Ausschau gehalten“. Den Aufprall des Geschädigten E. auf seiner Windschutzscheibe, habe er als lauten „Schepperer“ wahrgenommen und geglaubt, ein Wildtier angefahren zu haben. Dann sei er ausgestiegen und habe die unmittelbare Umgebung um sein Auto abgesucht, aber nichts gefunden.
Angeklagter dachte, Brille sei kaputt
Dem Angeklagten sei nur die beschädigte Stoßstange aufgefallen, aber nicht die zerborstene Windschutzscheibe. Weil der Angeklagte bereits vorher einmal einen Wildunfall erlebt hatte, bei dem das Tier weggelaufen sei. Bei dem vorherigen Unfall habe die Polizei gesagt, dass er weiterfahren könne. Auf der Heimfahrt mit der geborstenen Windschutzscheibe habe der Angeklagte dann gedacht, seine Brillengläser seien gebrochen. Ein kurzer Blick zwischen den Richtern lässt darauf schließen, dass sie diese Aussage für nicht besonders glaubwürdig halten. Der Angeklagte wirkt nervös.
Ein vom Vorsitzenden Richter verlesenes augenmedizinisches Gutachten bestätigt ein herabgesetztes Dämmerungs- und Kontrastsehen beim Angeklagten. Verzerrte Sicht mit mehrfachem Konturensehen auf dem rechten Auge schränken seine Sicht derart ein, dass das Erkennen eines Menschen in der Dunkelheit erst auf „halber Strecke“ möglich ist.
Update, 11 Uhr - Täter und Opfer kannten sich
Schon vor Beginn des Prozesses um 9 Uhr ist eine Menge junger Leute im Publikumsraum anwesend. Als der Angeklagte in Bauchgurt und Handschellen und in Begleitung zweier Polizisten den Gerichtssaal betritt, wirkt er gefasst. Nach Eröffnung der Hauptverhandlung verliest Staatsanwalt Merkel die Anklageschrift. Die Staatsanwaltschaft klagt den jungen Mann wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung und wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort und vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr an.
Feuerwehr und Kirche
Der Vorsitzende Richter Volker Ziegler befragt nun den Angeklagten zu seiner persönlichen Situation. Der 26-Jährige äußert sich persönlich und gibt an, vor der Untersuchungshaft auf dem Anwesen seiner Eltern gelebt zu haben, wo er auch als Landwirt arbeitete. Die Beziehung zu seinen Eltern und Geschwistern sei sehr gut, lebte vor seiner Untersuchungshaft im Anwesen der Eltern und arbeitete dort als Landwirt. Diesen Beruf mache für sein Leben gern. Er selbst habe auf dem zweiten Bildungsweg die Mittlere Reife abgeschlossen und war bei der Feuerwehr aktiv. Sonntags gehe die Familie in die Kirche.
Augenerkrankung erschwert Sicht
Der junge Mann trägt eine Brille und gibt an, wegen einer Augenkrankheit trübe Sicht auf einem Auge zu haben. Ohne Brille sehe er alles verzerrt, und auch wenn er die Brille trage, sehe er rechts trübe und verzerrt. Erst 2017 habe er eine Operation am Auge gehabt und gehe zu regelmäßigen Kontrollen. „Abends tu ich mich einfach schwerer beim Autofahren“, so der Angeklagte. Wenn er abbiegen wolle, sehe er das Schild nur kurz vorher. Auch während der Haft sei er diesbezüglich untersucht worden, ihm sei aber kein Fahrverbot ausgesprochen worden.
Angeklagter kannte Opfer schon vor der Tat
Wegen einer Hautauffälligkeit fühle sich der Angeklagte manchmal unsicher. Drogen nehme er keine, sagt der Angeklagte. Zwar nehme er in der Untersuchungshaft das Angebot der Drogenberatung an, aber dies nur wegen des seelischen Beistandes. Er wolle nur manchmal mit normalen Menschen reden. In der Haft gehe es ihm nicht sehr gut. Allerdings sei die erste Zeit nach dem Unfall besonders schlimm gewesen, weil der Angeklagte damals noch nicht gewusst habe, wie es dem Opfer ging.
Mutter des Opfers besucht Familie des Angeklagten fast täglich
Der zwei Jahre jüngere E. lag einen Monat im Krankenhaus und die beiden jungen Männer kannten sich wohl schon länger vor dem Unfall. So wollte der Angeklagte das Opfer im Krankenhaus besuchen, doch die Corona-Maßnahmen hätten dies verhindert. E. habe den 26-Jährigen dann aber in der Justizvollzugsanstalt selbst besucht. Auch dessen Mutter komme täglich bei den Eltern des Angeklagten vorbei und halte sie auf dem Laufenden. „Es ist Wahnsinn, welche Unterstützung wir vom Opfer und seiner Familie bekommen“, so der Angeklagte.
Vorbericht:
Es geschah am frühen Morgen des 24. Juli 2022: Als der damals 23-jährige E. den Heimweg vom Volksfest in Salmanskirchen antreten wollte, entschied er sich gegen das Fahrrad und ging zu Fuß. Etwas später muss wohl der 25-jährige S. aufgebrochen sein. Im Gegensatz zur vermeintlich vernünftigen Entscheidung von E., soll S. trotz starker Alkoholisierung in seinen schwarzen Audi gestiegen sein. Was dann geschah, führte zu massivsten Konsequenzen für die beiden jungen Männer.
Unfall zwischen Salmanskirchen und Weiler Berg
Die Erstmeldung der Polizei um 8.13 Uhr des gleichen Tages lautete, dass eine Passantin eine verletzte Person auf der Straße liegend aufgefunden habe. Der Verletzte sei vermutlich von einem Auto erfasst oder überfahren worden und vom Rettungsdienst in eine Klinik nach Landshut verbracht worden. Vom Unfallverursacher keine Spur. Schon um 9.49 nannte die Polizei weitere Details und gab bekannt, dass sich der Unfall gegen 5 Uhr auf der Kreisstraße Mü26 ereignet habe – zwischen Salmanskirchen und dem Weiler Berg. Ein 23-Jähriger aus dem Gemeindebereich Ampfing sei schwer verletzt, und die Staatsanwaltschaft Traunstein habe Ermittlungen wegen fahrlässiger Körperverletzung und unerlaubten Entfernens vom Unfallort eingeleitet. Ein unfallanalytisches Gutachten sei bereits in Arbeit.
Auto in Scheune versteckt
Die Polizei Mühldorf habe erst zwei Stunden nach dem Unfall einen Anfruf von dem damals 25-jährigen S. erhalten. Da Unfallspuren am Fahrzeug festgestellt wurden, wurde der Führerschein von S. sichergestellt. Bei einer Blutabnahme gegen 9 Uhr soll er noch immer etwa 1,5 Promille Blutalkohol aufgewiesen haben. Das Auto, dessen Windschutzscheibe durch den Aufprall von E. zerborsten gewesen sein soll, habe S. nach dem Unfall in einer Scheune untergestellt. Dann soll er sich schlafen gelegt haben, während sein zwei Jahre jüngeres Opfer schwerverletzt und blutend auf der Fahrbahn lag. Nur dem Zufall sei es zu verdanken, dass E. etwa 20 Minuten nach dem Zusammenstoß von der Passantin entdeckt wurde.
Anklage wegen versuchten Mordes
Wegen massiver Verletzungen des Schädels, zwei gebrochener Wirbel und weiteren Brüchen habe E. in ein künstliches Koma versetzt werden müssen – so die Staatsanwaltschaft. S. ist nun wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs, fahrlässiger Körperverletzung und versuchten Mordes in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort und vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr angeklagt. In vier Terminen soll der Fall am Landgericht Traunstein verhandelt werden. Das Urteil wird voraussithlich am 26. Juni gefällt werden.