Missbrauchsopfer durchbricht das Schweigen
Sie entkam der sexuellen Gewalt: Annette Hendl aus Soyen macht mit ihrem Buch anderen Mut
Annette Hendl aus Soyen wurde mit 14 Jahren vergewaltigt. Jahrelang erlebte sie sexuellen Missbrauch. Scham, Angst und Schweigen begleiteten sie, bis sie ein Ventil fand: das Schreiben. In ihrer Autobiografie berichtet sie über das Erlebte. Wie es ihr gelang, den Teufelskreis zu durchbrechen.
Soyen – Eine Geschichte wie keine Zweite ist die von Annette Hendl aus Soyen. Ihr Buch „Der Schatten, der nicht weichen wollte“ macht fassungslos, wütend, ohnmächtig. Doch es macht auch Mut. Mut darüber, dass sie heute ein normales Leben lebt. Der Weg dahin war schwer und steinig, wie die 59-Jährige aus Soyen erzählt.
Denn Annette Hendl ist mit 14 Jahren vergewaltigt worden. Das erste Mal. Nur wenige Zeit danach wird sie Opfer einer Gruppenvergewaltigung in einem Internat. Und wieder wenige Jahre später erlebte sie durch ihren Ehemann sexualisierte Gewalt. Damals war sie gerade 19 Jahre jung. Sie ließ sich scheiden – gegen den Rat ihrer Eltern, die trotz der Gewalt in der Ehe gegen die Trennung waren.
Auch die eigene Tochter betroffen
Danach traf sie auf ihren zweiten Ehemann, der im Buch Stefan heißt. Auch er vergewaltigte die heute 59-Jährige. Doch das eigentlich Schlimmste für sie: Nach Jahren erfuhr sie, dass sich ihr zweiter Mann auch an ihren Kindern vergangen hat; an ihrer damals 17-jährigen Tochter und ihrer vierjährigen Pflegetochter. Stockend berichtete ihre Tochter damals, wie ihr Stiefvater in der Nacht zu ihr gekommen sei, vor ihrem Bett onanierte und ihr dabei an die Brust griff.
Hendl fiel aus allen Wolken, war im Schockzustand. Unaufhörlich quälte sie die Frage: Warum habe ich nichts gemerkt?
Sie warf ihren Mann raus. Die Familie besorgte sich einen Anwalt, stellte Strafanzeige. Doch das Urteil war ernüchternd: Stefan bekam zwei Jahre auf Bewährung und eine Geldstrafe. „Und auch nur, weil er die Taten zugegeben hat. Ansonsten hätten wir kaum keine Chance gehabt“, meint Hendl.
„Konnte meine Kinder nicht schützen“
Doch die Schuld lässt sie bis heute nicht los. „Ich dachte, es war mein Fehler. Ich habe Stefan in die Familie gebracht. Daran habe ich lange geknabbert. Erst nachdem meine Kinder mir eindeutig signalisiert haben, dass ich nichts dafür konnte, war ich bereit, mir ein stückweit zu verzeihen. Aber damit muss ich als Mutter leben. Dass ich meine Kinder nicht schützen konnte, ist sehr schlimm für mich“, gesteht sie.
Durch eine Psychotherapie lernte die 59-Jährige, mit der Situation umzugehen. Und sie arbeitete ihre eigenen Erfahrungen auf. Ein schmerzhafter Prozess. Viele verdrängte Erinnerungen kamen hoch.
Täter übertrug ihr Hautkrankheit
Nach der Gruppenvergewaltigung im Internat musste die junge Frau zum Hautarzt, da sie sich durch einen der Täter eine Krankheit zugezogen hatte. Zeichen, die von den Verantwortlichen ignoriert oder nicht beachtet wurden. Auch ihre Mutter, die von dem Termin beim Arzt wusste, fragte nicht nach. Als sie Hendl vor Jahren darauf ansprach, antwortete ihre Mama: „Ich wusste, dass was los ist. Aber ich wusste, dass du stark bist.“ Diese Worte hätten ihr sehr weh getan. Sie habe stundenlang geweint. Nach dieser Unterhaltung brach Hendl den Kontakt zu ihrer Mutter mehrere Jahre ab.
Resonanz anderer Betroffener sehr groß
Die 59-Jährige weiß heute: Schweigen bringt dich um. „Es ist ein Teufelskreis. „Man muss darüber reden. Nur so kann der Bann durchbrochen werden. Meine Mutter hatte auch eine schlimme Kindheit, das weiß ich. Aber sie hat nie darüber geredet. Und meine Tochter ist ja auch nicht zu mir gekommen, nachdem ihr Stiefvater sie missbraucht hatte. Und dass, obwohl sie wusste, dass ich auch ein Missbrauchsopfer war. Ich hoffe, durch mein Buch und meine Offenheit habe ich den Bann gebrochen, der meine Familie immer wieder heimsucht, seit mehreren Generationen.“
Auf die Frage, ob sie sich durch die Veröffentlichung ihrer Autobiografie nicht entblößt fühle, antwortete sie nur: „Nein, warum sollte ich? Ich hab ja nichts Falsches gemacht.“
Wieder ein normales Leben führen
Und die Resonanz anderer Betroffener sei sehr groß, erzählt die 59-Jährige. Viele Leser hätten sich gemeldet über soziale Medien, auf Buchmessen und Lesungen. „Es erging vielen so wie mir. Und alle schweigen. Aus Scham und Angst, dass ihnen keiner glaubt. Diese Last ist gigantisch. Nur durch das Drüber-Reden kann ich heute ein normales Leben führen“, erklärt sie.
Trotzdem blieben Narben. Nähe zuzulassen fiele ihr schwer. Ihr dritter Mann, der vor sechs Jahren verstarb, war für sie der Fels in der Brandung. „Er war ein sehr gefühlvoller Mensch. Ohne ihn wäre ich heute nicht die, die ich bin. Ich habe gedacht, ich kann nie wieder jemandem körperlich nah sein. Als ich vor zwei Jahren meinen jetzigen Lebensgefährten kennenlernte, hatte ich schon Angst davor, vorm Kuscheln und so. Aber er hat es irgendwie geschafft, mir die Angst zu nehmen.“
Das Buch und wo es zu haben ist
Annette Hendls Buch „Der Schatten, der nicht weichen wollte – wie sexueller Missbrauch unsere Familie bestimmte, bis uns endlich die Befreiung gelang“ ist im Hartmut Becker Verlag erschienen und ist unter der ISBN-Nummer 978-3-929480-56-6 im Buchhandel oder online bestellbar.
Das Manuskript hat über 600 Seiten, während das veröffentlichte Werk etwas über 200 umfasst. Acht Jahre lang schrieb Hendl daran, es war Teil ihrer Therapie, denn das Schreiben war für sie ein Ventil, um das Erlebte zu verarbeiten. „Es gibt viele Bücher über Missbrauch. Aber die enden meistens beim Prozess gegen den oder die Täter“, findet Hendl. Ihr Buch soll zeigen, wie es nach dem Missbrauch weitergeht, wie man als Familie weitermacht. „Wir konnten uns aus der Sprachlosigkeit befreien. Aber die Narben auf unseren Seelen bleiben“, so die Autorin. Alle Namen und Orte sind aus Datenschutzgründen geändert.
Das sagt der Frauen- und Mädchennotruf Rosenheim: „Im Kern der sexualisierten Gewalt steht die Machtausübung“
Annette Hendl aus Soyen hat den jahrelangen sexuellen Missbrauch in einer Autobiografie verarbeitet. Das Beratungsteam beim Frauen- und Mädchennotruf Rosenheim ordnet das Geschehene ein und beantwortet die drei wichtigsten Fragen zum Thema.
Wie hoch ist statistisch gesehen die Wahrscheinlichkeit, im engsten Umfeld, also im sozialen Nahraum, sexualisierte Gewalt zu erleben?
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend spricht davon, dass jede vierte Frau in Deutschland Gewalt durch aktuelle und/oder frühere Beziehungspartner erlebt beziehungsweise bereits erlebt hat und jede siebte Frau Opfer von schwerer sexualisierter Gewalt wird. Zwei von drei Frauen erfahren im Laufe ihres Lebens sexuelle Belästigung.
Bei den Beratungsfällen des Frauen- und Mädchennotrufs Rosenheim im Jahr 2021 kamen die Täter ausschließlich aus dem sozialen Nahraum der Betroffenen. Zusätzlich zu Partnerschaften zählen die Familie, der Freundes- oder Bekanntenkreis, die Nachbarschaft, Schule/Arbeitsplatz und Vereine zum sozialen Nahraum.
Was ist „sexualisierte Gewalt“?
Sexualisierte Gewalt beginnt bereits auf (non-)verbaler Ebene mit anzüglichen Worten, Gesten oder Blicken und findet sowohl analog als auch digital statt. Juristisch wird zwischen sexuellem Missbrauch, sexueller Nötigung und Vergewaltigung unterschieden. Im Kern der sexualisierten Gewalt steht die Machtausübung der Täter durch Demütigung und Erniedrigung der Betroffenen. Sexualisierte Gewalt ist immer eine massive Grenzverletzung und kann zu verschiedensten sozialen, psychischen, gesundheitlichen und/oder ökonomischen Beeinträchtigungen führen.
An wen können sich Betroffene wenden?
Unser Beratungsangebot richtet sich an Frauen, Mädchen und Jungen sowie deren Bezugspersonen und Fachpersonal. Die Beratungen sind kostenfrei und auf Wunsch anonym. Bei Bedarf können Dolmetscher hinzugezogen werden. Wir beraten gerne persönlich (Frauen- und Mädchennotruf Rosenheim e.V., Ludwigsplatz 15, 83022 Rosenheim), telefonisch (08031/268 888) oder per Mail (beratung@frauennotruf-ro.de). Öffnungszeiten: montags bis donnerstags von 9 bis 16 Uhr, freitags von 9 bis 12 Uhr, außerdem sind individuelle Terminvereinbarungen möglich. Weitere Informationen finden sich auf der Webseite: www.frauennotruf-ro.de.
Darüber hinaus ist das deutschlandweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ unter 08000/116 016 365 Tage im Jahr rund um die Uhr erreichbar.