Slackliner aus Bad Aibling testet Grenzen aus
200 Meter ungesichert über dem Abgrund: Slackline-Weltrekordhalter Friedi Kühne im Interview
Der Rosenheimer Friedi Kühne lebt als professioneller Slackliner das Extreme. Anlässlich seines bald erscheinenden Buches spricht der 33-Jährige exklusiv über seine einzigartigen Abenteuer, sein Leben im Moment und warum er ohne Sicherung über die größten Abgründe der Welt balanciert.
Rosenheim/Bad Aibling – Herr Kühne, wenn man bei einem sogenannten Free Solo Weltrekord ungesichert auf einem 110 Meter langen und circa 2,5 Zentimeter breiten Seil über einem 200 Meter tiefen Abgrund in Südfrankreich steht: Was für Gedanken gehen einem durch den Kopf?
Friedi Kühne: Im Idealfall gar nichts. Im besten Fall ist man in einem Flow. Dann merke ich nicht, wie die Zeit vergeht, sondern befinde mich nur im Moment. Darum geht es mir beim Slacklinen. Du denkst nicht mehr darüber nach, was vor fünf Minuten war. Du denkst nicht, was du am Morgen gefrühstückt oder mit wem du dich gestern gestritten hast. Das verschwindet alles. Alles, was zählt, ist der nächste Schritt, meine Position und die Atmung. So zieht es mich in den Flow. Wenn ich am Ende ankomme, habe ich keine Ahnung, an was ich die letzten Minuten gedacht habe.
Und in diesen Zustand kommen Sie leichter, ohne abgesichert zu sein?
Kühne: Ja, ohne Sicherung komme ich einfacher in diesen Moment. Der Körper weiß um die Gefahr und schüttet mehr Adrenalin aus. Ich komme also automatischer in den Flow.
Denkt man dabei nicht daran, dass mit einem falschen Schritt alles vorbei ist?
Kühne: Das stimmt so nicht ganz. Es gibt immer die Möglichkeit, sich an der Slackline zu fangen. Das heißt, wenn ich mein Gleichgewicht verliere, stürze ich nicht direkt in den Tod. Ich versuche mich stattdessen, wie ein Klammeräffchen, an der Leine mit Beinen und Armen festzukrallen. Jeder, der auch nur über Free Solo nachdenkt, muss den Griff drauf haben. Mein Mindset ist also nicht Balancieren oder Sterben. Wenn irgendwas nicht stimmt, dann lasse ich mich fallen und fange mich auf der Leine auf. Im Sitzen kann ich mich dann etwas ausruhen. Aber ja, sollte ich das einmal nicht hinkriegen, dann wäre es vorbei. Daher muss ich immer ein Bewusstsein dafür haben und vor allem mental die Kontrolle behalten.
Free Solo ist also eine mentale Herausforderung und nicht einfach lebensmüde?
Kühne: Die Sicherung, der Knoten, der Gurt – das sind alles Erinnerungen daran, dass ich mir noch nicht vollständig vertraue. Aber wenn die Sicherung weg ist, dann ist das der ultimative Vertrauensbeweis an mich selbst. Das ist ein befreiendes Gefühl. Im Alltag machen wir uns von so vielen äußeren Faktoren abhängig und fühlen uns ängstlich. Wenn ich das mache, dann fühle ich mich wirklich frei. Niemand kann in dem Moment auf mich Einfluss nehmen.
Sie verspüren also keine Angst dabei?
Kühne: Ich habe das Bewusstsein, dass da ein Abgrund ist. Das ist eine Anspannung, die mich wach macht und hochkonzentriert werden lässt. Aber eine Angst, die mich packt und hemmt, die darf nicht aufkommen. Dann war ich noch nicht bereit. Dann muss ich sagen, heute geht es nicht.
Kam das schon einmal vor?
Kühne: Absolut. Ich stand schon direkt vor der Leine und habe aus verschiedenen Gründen gesagt: Nein, heute nicht! Manchmal war das Wetter nicht gut, aber auch emotional kann das passieren. Wenn ich mich vorher mit jemandem gestritten habe, zum Beispiel. Außerdem muss ich die Slackline einige Male davor gelaufen sein. Erst wenn ich weiß, ich kann das so gut, wie andere über den Gehsteig spazieren, dann mache ich das.
Macht Ihr Umfeld das alles mit oder machen sich Freunde und Familie Sorgen, dass Sie an einem Tag nicht wiederkommen?
Kühne: Nein, weil ich kein reiner Draufgänger bin. Meine Frau slacklined auch und kennt meine Fähigkeiten. Das heißt, sie vertraut mir. Sie stachelt mich zwar nicht an. Aber wenn ich ihr sage, dass ich das kann und will, dann akzeptiert sie das. Genau wie meine Eltern. Wobei mein Vater das gelassener nimmt als meine Mutter. Aber wir arrangieren uns.
Mit der Free Solo - Highline über 110 Meter Länge halten Sie aktuell einen Weltrekord. Dabei bestand für Sie als Kind früher ein perfekter Tag aus Comics lesen, Fernsehen und Lego bauen. Stimmt das?
Kühne: Das stimmt, ich war eher ein Stubenhocker. Ich war schüchtern und ängstlich. Aber meine Eltern haben mich und meinen Comic immer mit nach draußen genommen. Nicht zum Leistungs- oder Extremsport, sondern Zelten oder Bergsteigen. Die erste Begeisterung kam dann mit einem Trampolin. Da bin ich stundenlang am Abend darauf rumgehüpft. Später bin ich zum Parkour gekommen. Als früher die Alte Spinnerei in Kolbermoor noch stand, haben wir uns dort durch Staub und rostige Feuerwehrleitern geschwungen. Über Schulfreunde ging es dann zum Klettern und darüber zum Slacklinen.
Wie sieht ein Training eines professionellen Slackliners aus?
Kühne: Das ist total unterschiedlich. Je nachdem, was du machen willst. Trickliner sind sehr akrobatisch. Da hast du eine fest gespannte, kurze Leine, auf der du springen und Tricks in der Luft vollführen kannst. Dann gibt es das Highlinen, bei dem es darum geht, möglichst lang und ausdauernd zu laufen. Für beides muss gezielt trainiert werden. In der Regel hängt dafür in der Nähe dauerhaft eine Slackline. Denn ein Auf- und Abbau kostet Zeit. Dort lässt es sich dann manchmal nur fünf Minuten, aber auch stundenlang mit allen möglichen Varianten üben.
Bei Ihren Projekten ist die Slackline teilweise zwei Kilometer lang. Wie wird so etwas überhaupt gespannt?
Kühne: Der Aufwand ist riesig. Das geht nur mit einem ganzen Team. Bei meinem Weltrekord waren es 20 Leute. Bei kürzeren Distanzen kannst du mit einer Drohne eine Angelschnur auf die andere Seite fliegen lassen. Darauf ziehst du dann eine dickere Schnur, worauf dann die Slackline gespannt wird. Bei zwei Kilometern geht das nicht mehr. Da mussten wir von beiden Seiten Seile auslegen und die Slackline mit einer Seilwinde aufziehen. Das dauert länger als der anschließende Lauf. Manchmal bis zu ein paar Tagen. Deswegen sind das immer ganze Expeditionen.
Neben Ihren Vorträgen, Projekten und Rekorden sind Sie auch noch Englisch- und Mathelehrer. Wissen die Schüler eigentlich, was Sie machen?
Kühne: Meine eigenen Schüler, ja. Manche folgen mir sogar auf Instagram. Manchmal habe ich das Slacklinen auch in den Unterricht, zum Beispiel in Form von Matheaufgaben, eingebaut. Die meisten kommen also gar nicht drum rum und wissen, dass da so ein Verrückter vor ihnen steht.
Motivieren Sie die Schüler zum Sport?
Kühne: Absolut, das muss allerdings auch von den Schülern ausgehen. Ich zeige ihnen aber gerne alles. Was mir aber viel wichtiger wäre, sind die Werte weiterzugeben, die sich daraus ziehen lassen. Gerade so etwas wie Mut oder Selbstbewusstsein.
Zusätzlich zum vollgepackten Terminkalender kommt nun auch noch ein Buch. Wie haben Sie dafür Zeit gefunden, auch noch unter die Autoren zu gehen?
Kühne: Es war im vergangenen halben Jahr sehr stressig. Ich weiß gar nicht, wie ich das neben den Projekten und der Arbeit noch untergebracht habe. Ich saß nächtelang am Computer oder habe auf dem Beifahrersitz geschrieben.
Anfang Oktober erscheint Ihr Werk „Über dem Abgrund”. Ist das nur was für Spezialisten?
Kühne: Nein, jeder Fachbegriff rund um das Slacklinen wird erklärt. Es geht um meine persönliche Geschichte und wie ich meinen Horizont mit vielen Projekte in der ganzen Welt erweitern konnte. Es ist damit was für jeden, der in irgendeiner Form Abenteuer mag. Das kann Sport jeglicher Art sein, aber auch für Leute, die einfach nur gerne reisen.
Geben Sie uns einen kurzen Ausblick. Was wird Ihr nächstes Projekt?
Kühne: Das nächste wird, wahrscheinlich im Frühjahr 2024, das Ballon-Highlinen. Dort werde ich mit einem Fallschirm auf dem Rücken ohne Sicherung zwischen zwei Heißluftballons auf einer kurzen Slackline balancieren. Das wird sehr wackelig. Aber wenn es mich runter haut, fliege ich halt davon.


