Pandemie in Region Rosenheim
Gymnasiums-Chef über Corona-Folgen bei Schülern: „Da ist in den Köpfen etwas passiert“
Kein Bock auf Schulaufgaben, Lernrückstände, Trauer um unwiderbringlich Versäumtes: Corona hat Kinder und Jugendliche auch in der Region Rosenheim hart getroffen. Wie schlimm, das verrät Walter Baier aus Bruckmühl als Chef der bayerischen Direktorenvereinigung im Interview.
Turbulente Zeiten – auch bei Ihnen am Gymnasium in Bruckmühl?
Walter Baier: Wir haben die Pool-Testungen in dieser Woche gestartet. Wir warten auf die Ankündigung, dass unsere Sporthalle für Flüchtlinge aus der Ukraine umgebaut wird. Und: Wir haben so viele Ausfälle wie nie, bei Lehrern wie bei Schülern. So langsam wird’s kritisch. 13 Lehrer fehlen heute, das sind deutlich mehr als zehn Prozent. Die Kinder werden wir wohl früher heimschicken müssen, weil wir die Stunden gar nicht mehr alle vertreten können. Aber es regt sich kaum mehr jemand auf. Es ist eine Situation, die niemanden so richtig beunruhigt, obwohl die Zahlen eher steigen.
Kommen die Lockerungen zu früh?
Baier: Man muss mit dem Virus leben lernen, klar. Wir sind in einer Zwischenphase: Jeder wünscht sich Normalität, aber es ist eben auch beunruhigend, wie weit wir von Normalität entfernt sind. Wie werden mal sehen, wie wir bis Ostern durchkommen. Und dann, wie wir auf die aktuelle Lage reagieren müssen. Es könnten zum Beispiel auch zu uns ukrainische Kindern und Jugendlichen kommen, und die sollen alle so schnell wie möglich beschult werden. Die Hochrechnungen sprechen von Millionen von Ukrainern auf der Flucht, überwiegend Mütter und Kinder. Da werden hohe Erwartungen an die Schulen gestellt, die doch ohnehin seit zwei Jahren im Krisenmodus stehen.
Zwei Jahre Corona – wie fällt die Bilanz aus der Sicht des Pädagogen aus?
Baier: Gemischt. Man muss differenzieren.
Inwiefern?
Baier: Es gibt Schüler, die sehr gut durch den Distanzunterricht gekommen sind. Die stehen teilweise besser da als zuvor. Dann gibt es da die Schüler, die verlernt haben, was Schule bedeutet, was Leistung und Lernen bedeuten. Und die psychisch so angeschlagen sind, dass sie schwer den Weg wieder zurückfinden. Auch die Eltern sind zum Teil ratlos.
„Vormalige Einserschüler, die die Hoffnung verlieren“
Welche Schüler betrifft das vor allem?
Baier: Da gibt es vormalige Einserschüler, die die Hoffnung verloren haben, dass sie den Anschluss an ihre früheren Leistungen finden. Die so stark leiden, dass es psychische Auswirkungen hat, die aber auch derzeit aufgrund von fehlenden Möglichkeiten niemand therapieren kann. Eltern und Lehrer sind gleichermaßen überfordert. Es geht nicht unbedingt darum, dass sie nicht fleißig sind und es versuchen würden. Da ist etwas passiert ist in den Köpfen.
Wie äußern sich diese Beschwerden noch?
Baier: Manche Schüler haben verlernt, was Schule heißt. Die machen zum Beispiel keine Hausaufgaben mehr. Ich habe die Befürchtung, dass einige die ganze Nacht lang Computerspiele spielen. Das Ausmaß der Spielsucht hat wahrscheinlich deutlich zugenommen. Die kommen davon nicht mehr los. Und dann gibt es die Eltern, die ihre Kinder sozusagen schützen, etwa bei vergessenen Hausaufgaben. Eltern, die ihre Kinder vor der Nacharbeit am Nachmittag bewahren wollen: Das Phänomen hatten wir vorher nicht. Für dieses Verhalten habe ich kein Verständnis.
Aber zur Schule kommen die Schüler schon noch, oder?
Baier: Die sind ja gerne hier. Wenn es aber um Anforderungen geht, da scheiden sich die Geister. Mit Freunden was zu unternehmen, das ganze soziale Miteinander – da ist die Begeisterung groß. Nicht aber dafür, eventuelle Wissenslücken zu schließen. Da stößt man bei manchen auf Unverständnis. Wir sollten irgendwann wieder in die Nähe eines gymnasialen Anspruchsniveaus kommen. Es besteht auch die Gefahr, dass an sich geeignete Schüler das Gymnasium verlassen, weil sie sagen, den Stress tue ich mir nicht mehr an.
„Dass man da aufgibt, ist verständlich“
Wo sind die Schäden größer, auf dem Gebiet des Lernens oder dem der Persönlichkeitsentwicklung?
Baier: Ich glaube, auf dem zweiten. Da haben die Schüler mehr gelitten, als viele vermuten. Man sieht die Schäden erst jetzt. Viel zu lange hatten wir Distanzunterricht. Die Kinder haben auch unter dem Stress des Homeschoolings gelitten. Dass man da aufgibt, ist nach einiger Zeit verständlich. Die Lücken aufzuholen, wäre für die meisten Schüler an sich möglich. Aber Strategien etwa fürs Lernen zu entwickeln, dazu fehlt manchen die Lust und die Energie.
Wie wirken diese Schüler auf Sie?
Baier: Man spürt Verunsicherung. Gerade die etwas älteren Schüler stellen sich die Frage: War das nun meine Jugend? Die Pubertät ist einmalig, diese Zeit kommt nie wieder. Und zwei Jahre lang hat man ihnen eingetrichtert, dass sie Abstand halten sollen, sich nicht berühren, nicht mal Händchen halten oder am besten gleich zu Hause bleiben sollen. Die haben diese wichtige Zeit nicht erlebt, sie wissen aber, dass ihnen was fehlt. Diese Erkenntnis ist frustrierend. Sie denken auch mehr über den Krieg in der Ukraine nach, als sich Erwachsene das so vorstellen. Die Köpfe sind anderweitig belegt, da sind Wissenslücken aus der Corona-Zeit schwierig aufzuholen. Dieser Prozess wird länger dauern als zunächst gedacht.
Erst Lernen zu Hause, dann keine Ausflüge
Gibt es Altersklassen, die besonders hart betroffen wirken?
Baier: Es gibt bei Fünft-, Sechs- und Siebtklässlern Probleme, die waren im Distanzunterricht zu Hause und haben am Gymnasium bisher nur Unterricht erlebt. Also keine Sommerfeste, keinen Fasching, keine Sommerolympiade, keine Schulandheimaufenthalte oder Skilager. Und dann gibt es die Älteren, die am Ende der Pubertät stehen und die im Rückblick erkennen, dass sie vielleicht einen wichtigen Teil in ihrer Entwicklung versäumt haben.
Wie äußern sich die Probleme noch?
Baier: Im Prinzip darin, dass einige ihre Arbeitsaufträge nicht erledigen oder sich nicht an die Regeln der Schulgemeinschaft halten. Früher hat man sich Ausreden überlegt, wenn man die Hausaufgabe vergessen hatte, aber das ist auch nicht mehr so. Wenn schulische Pflichten in Frage gestellt werden – muss das sein, zwei Schulaufgaben in einer Woche –, kommen wir in einen Bereich, wo das gesamte Schulsystem in Frage gestellt wird.
Was bedeutet das für das Abitur?
Baier: Es ist zu befürchten, dass es auch heuer wieder Petitionen gegen angeblich zu schwere Abituraufgaben geben wird. Letztes Jahr hatten wir das beste Abitur der Geschichte. Aber vor allem deswegen, weil man den Schülern so weit entgegengekommen ist. Wenn die Abiturschnitte immer besser werden, müssen wir uns schon die Frage stellen, was die Hochschulreife in Zukunft noch wert ist.
Lehrer in der Region Rosenheim: Erschöpfung durch Frust
Wie ist der Stand bei den Lehrern?
Baier: Da herrscht große Erschöpfung. Nicht durch Überarbeitung, sondern dadurch, dass einem ständig vieles durch den Kopf geht und dass man sich permanent im Krisenmodus befindet. Sie wollen helfen, sehen aber, dass sie an ihre Grenzen stoßen, das macht mürbe. Die meisten sind ja Idealisten. Und da stellt sich einigen schon die Frage, wie es weitergehen soll. Jeder wünscht sich die Zeit vor Corona zurück in dem Wissen, dass diese vielleicht nie wiederkommt.
Was kann der Staat da nun tun?
Baier: Was nicht geht, ist, dass man den Lehrern noch mehr zusätzlich Aufgaben zuweist. In einer Zeit des Lehrermangels wird es schwierig werden, wenn Schulen noch Tausende von zusätzlichen Klassen beschulen sollen. Auch die Schulleitungen mussten in den letzten beiden Jahren Enormes leisten, um den Schulbetrieb am Laufen zu halten. Das hat Spuren hinterlassen. Jetzt setzt man große Hoffnungen auf pensionierte Lehrer, aber die sind ja auch froh, im Ruhestand zu sein. Ich weiß nicht, wie es uns gelingen wird, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Versuchen werden wir alles, aber eine Entlastung in anderen Bereichen wird nötig sein.
„Lehrern nicht dauernd Vorwürfe machen“
Sehen Sie das nicht arg schwarz? Belastet sind schließlich viele andere Berufsgruppen und Eltern auch.
Baier: Ja, aber man sollte auch nicht den Lehrern dauernd Vorwürfe machen. Und das machen schon einige. Aber nein, die Lehrer sind nicht dauernd untätig zu Hause gesessen. Egoismen hat es auch schon vorher gegeben. Auch die Eltern, die sehen, dass mit ihrem Kind nicht alles rundläuft, und die dann fordern, dass das die Schule wieder hinbekommen muss. Auf jeden Fall muss man innerhalb der Schulfamilie im Gespräch bleiben. Die Angst, dass Kinder nicht die Bildung wie früher erhalten haben, die ist zum Teil berechtigt. Diese haben in der Zeit des Distanzunterrichts weniger Unterrichtsinhalte mitbekommen, und das ist nicht in jedem Fall aufholbar. Die gute Nachricht: Das muss nichts mit Lebenszufriedenheit oder späterem Erfolg im Beruf zu tun haben.