Prof. Dr. Ulrich Voderholzer Im Interview
„Kein systemisches Versagen“: Priener Experte zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche
Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche hat viele Menschen so erschüttert, dass sie aus der Kirche austreten. Die OVB-Heimatzeitungen haben mit Professor Dr. Ulrich Voderholzer über die Folgen von Missbrauch für Betroffene und die Fallhöhe der katholischen Kirche gesprochen.
Prien am Chiemsee - Der 60-Jährige ist Chefarzt für Psychosomatik & Psychotherapie an der Roseneck Klinik in Prien am Chiemsee. Sein Bruder ist der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer.
Herr Voderholzer, warum führt Missbrauch in vielen Fällen zu einem Trauma und was ist das eigentlich genau?
Prof. Dr. Ulrich Voderholzer : Gerade für Kinder ist sexueller Missbrauch eine sehr schlimme Erfahrung, weil es ein Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins auslöst. Zumal die Betroffenen das Erlebnis nicht einordnen können: Ein Mensch, dem man vertraut und der einem wichtig ist, vollzieht eine Handlung, die nicht zu verstehen ist. Das führt oft dazu, dass sich Betroffene schuldig fühlen. Wir erleben das oft in der Therapie, dass die Betroffenen schwere Schuldgefühle haben. Daher wäre es wichtig, dass man darüber redet. Und dass die Betroffenen auch erleben, dass Sie keine Schuld haben und wissen, dass das nicht in Ordnung war.
Wie wirkt sich so eine Erfahrung langfristig aus?
Voderholzer: Personen, die so etwas erlebt haben, tun sich sehr schwer damit, zu vertrauen. Viele Betroffene haben ein sehr negatives Selbstbild, fühlen sich schmutzig und wertlos. Traumata haben gravierende Langzeitfolgen, das hat die Forschung früher unterschätzt. Das Risiko für psychische Erkrankungen ist viel höher, wenn man ein Trauma erlitten hat: Depressionen, Suizid, Essstörungen, aber auch Schlafstörungen sind eine häufige Folge. Es ist ganz klar: Wenn es Missbrauch nicht gäbe, gäbe es auch weniger psychische Erkrankungen.
Aber auch körperlich sind die Folgen von Traumata spürbar: Das Stresshormonsystem ist dauerhaft aktiv, das Immunsystem ist belastet und bestimmte Krankheiten sind wahrscheinlicher. Wobei es große Unterschiede gibt, was die Resilienz angeht.
Was bedeutet das?
Voderholzer: Resilienz ist die Widerstandskraft. Es gibt Menschen, die Missbrauch leichter verarbeiten. Dazu wird gerade sehr viel geforscht. Schon bei der Geburt haben Menschen eine unterschiedliche Resilienz, das liegt auch an den Genen. Aber auch später gibt es Einflussfaktoren. Etwa ob das Kind eine Familie hat, die sein Selbstbewusstsein stärkt und in der es eine Atmosphäre erlebt, in der man über Dinge sprechen kann. Das kann sehr viel kompensieren.
Warum empfinden Menschen Missbrauch durch Vertreter der katholischen Kirche als besonders schlimm?
Voderholzer: Es wird ja angenommen, dass die Kirche Sinn und positive Werte vermittelt. Das ist anders als bei einem Sportverein. Entsprechend ist die Fallhöhe größer. Wobei jeder Missbrauch einer zu viel ist, egal wo er stattfindet. Ich stelle mir vor, dass es für viele Opfer, die Missbrauch außerhalb der Kirche erlebt haben, gar nicht so leicht ist, dass die Betroffenen von kirchlichem Missbrauch nun Geld bekommen.
Wie könnte die katholische Kirche den Missbrauch „wiedergutmachen“?
Voderholzer: Wiedergutzumachen, was lebenslange Folgen hat, ist allenfalls begrenzt möglich. Das Wichtigste ist, dass man mit den Betroffenen spricht und dass eine Entschuldigung ausgesprochen wird. Denn viele Opfer leiden daran, dass man ihnen nicht geglaubt hat. Das macht es noch schlimmer und führt zu einem zweiten Trauma. Dennoch halte ich es für wichtig, dass man jeden Fall prüft – ich habe auch schon mal einen Fall erlebt, bei dem die Angaben des Opfers falsch waren.Wichtig fände ich, dass es eine staatliche Aufarbeitungsinitiave für Missbrauchsfälle in Institutionen gäbe.
Warum ist Missbrauch in Gemeinschaften oft ein Tabuthema?
Voderholzer: Ich wundere mich etwas über die Diskussion. Ich habe noch keine Gesellschaft und keinen Verein kennengelernt, der mit Begeisterung über Missbrauchsfälle spricht. Es ist eine übliche Reaktion, dass man versucht, so etwas intern aufzuklären. Wichtig ist, dass das passiert und auch strafrechtlich aufgearbeitet wird.
Der größte Skandal ist für mich eigentlich, dass Missbrauch so häufig passiert. Man tut sich eigentlich immer noch schwer, das zu thematisieren. Aus meiner Sicht ist auch zu wenig bekannt, dass auch Jugendliche oft Täter sind und Jüngere missbrauchen. Prävention ist in jeder Hinsicht wichtig! Kinder müssen lernen, dass man mit ihrem Körper nicht alles machen darf und dass das Unrecht ist.
Oft hieß es, der Täter sei „verführt worden“. Das Opfer wird zum Täter gemacht. Wie kommt das?
Voderholzer: Man kann sich das ja oft gar nicht vorstellen, dass eine Person, die besonders beliebt ist und vielleicht einen sehr guten Draht zu Kindern oder Jugendlichen hat, auch Täter ist. Eigentlich stellt man sich die ja eher als besonders fiese Typen vor. Wenn den Opfern die Schuld gegeben wird, ist das eine zusätzliche Traumatisierung.
Es gibt aber noch eine andere Form der Täter-Opfer-Umkehr: Kinder wiederholen ganz allgemein Dinge, die sie selbst erlebt haben, dazu gibt es sehr viele Untersuchungen. Daher kommt es zum Teil auch vor, dass Missbrauchte später selbst zum Täter werden.
Hat die Kirche ein systemisches Problem, was Missbrauch angeht?
Voderholzer: Ich persönlich würde das nicht so einschätzen. Es gibt beispielsweise auch keine Vergleichsstudien zwischen Missbrauch in Vereinen und der Kirche. Im Grunde ist die Gefahr des Missbrauchs überall dort gegeben, wo Menschen mit Kindern und Jugendlichen zusammenarbeiten. Es ist eine Frage der Gelegenheit: Internate, Heime, Freizeiten. Ohne Zweifel sind aber in der Kirche schwere Fehler gemacht worden und man muss alles dafür tun, Missbrauch zu verhindern.
Gibt es denn aus Ihrer Sicht einen Zusammenhang zwischen Zölibat und Missbrauch?
Voderholzer: Wissenschaftlich kann man nicht belegen, dass es einen Zusammenhang zwischen Zölibat und Missbrauch gibt. Man weiß ja nicht, ob der Beruf deshalb gewählt wurde, weil Kontakt zu Kindern gewünscht war, oder ob sie sich während des Berufslebens so entwickelt haben. Wichtig finde ich in dem Kontext, dass die sogenannte sexuelle Revolution der 1960er Jahre zum Teil auch dazu geführt hat, dass Sexualität mit Kindern von manchen als normal angesehen wurde. Damals sind schwere Fehler passiert.
Reicht die Aufarbeitung der Kirche?
Voderholzer: Es gibt seit 2002 und 2010 neue Leitlinien. Das ist aus meiner Sicht der richtige Weg: sich mit den Betroffenen zusammensetzen, dort wo Unrecht geschehen ist. Wobei ich das nur aus der Beobachterperspektive betrachten kann.
Was muss die katholische Kirche jetzt tun?
Voderholzer: Ob katholische Kirche oder Sportverein: Ganz wichtig ist es, dass Menschen mit Pädophilie nicht mit Kindern arbeiten dürfen. Früher hat man die Rückfallgefahr bei Menschen mit dieser Neigung sehr unterschätzt. Heute weiß man, dass diese Neigung irreversibel ist.
