Gedenken am Internationalen Tag gegen Rassismus
Zwei Stolpersteine für Neubeuern: Was zwei verfolgte Juden mit dem Ort verbindet
Vor dem Albert-Schweitzer-Kinderhaus Kerb und Rosenhof in Neubeuern wurden am 21. März zwei Stolpersteine verlegt. Sie sollen an die verfolgten Juden Dr. Heinz Kerb und Dr. Erich Ephraim Spiegelberg erinnern. Was die beiden mit dem Ort verbindet.
Neubeuern/Pinswang - Gunter Demnig kniet am Boden. Er setzt die beiden Steine in die Löcher im Pflaster. Die Zwischenräume befüllt der Künstler mit einem Gemisch aus Sand und Zement. Mit einem Handbesen kehrt er den Dreck von den quadratischen Messingtafeln, bringt sie zum Glänzen mit einem Schwamm und etwas Wasser. Zweimal 96 auf 96 Millimeter für zwei Männer: Dr. Heinz Kerb und Dr. Erich Ephraim Spiegelberg. Nationalsozialisten haben die beiden Juden verfolgt.
„Ihre Geschichte erzählen“
„Sie hatten keine Chance, ihr Leben zu leben und ihre Träume zu verwirklichen“, sagt Heiner Koch, Geschäftsführer des Albert-Schweitzer-Familienwerks Bayern während der Begrüßung der Gäste. „Wir wollen mit den Stolpersteinen ihre Namen in unsere Erinnerung zurückbringen und ihre Geschichte erzählen.“ Denn das Leben der beiden Verfolgten war mit dem Rosenhof in Pinswang verwoben.
Heinz Kerb wurde am 7. August 1883 in Berlin geboren. Die Familie war jüdisch, wechselte aber zum evangelischen Glauben. „Vielleicht auch, um den damals schon häufigen Anfeindungen gegenüber Menschen jüdischen Glaubens zu entgehen“, sagt Christoph Bensch-Andrae von der Initiative Erinnerungskultur und Stolpersteine für Rosenheim. Kerb promovierte in Biologie, war Soldat im ersten Weltkrieg und wurde für besondere Dienste an der Front ausgezeichnet.
Der Wunsch nach einem Kinderheim
1918 zog Kerb nach Rosenheim, studierte Jura an der Ludwig-Maximilians-Universität München und eröffnete danach ein Steuerberatungsbüro in der Innstraße. Anfang der 1930er Jahre lernte er Henriette Plest kennen, kurz darauf heirateten sie und bekamen ihre Tochter Ruth. Plest bewirtschaftete in Pinswang einen landwirtschaftlichen Betrieb und die beiden wollten dort ein Kinderheim eröffnen.
„Nach der Machtergreifung durch die Nazis aber wurde alles anders“, sagt Bensch-Andrae. Aufgrund der jüdischen Herkunft von Kerb hätten ihnen die Nazis die Beschäftigung von Lehrmädchen und den Betrieb des Kinderheims für „arische“ Kinder verboten. Als „Nichtarier“ wurde Kerb seine Zulassung entzogen und er musste seine Steuerkanzlei schließen.
Im Krankenhaus Bad Aibling verstorben
Laut Bensch-Andrae haben die Nationalsozialisten die Familie immer mehr drangsaliert. Kerb erkrankte und verstarb am 26. Dezember 1938 bei einer Magen-Operation im Krankenhaus Bad Aibling. Seine Frau war Bensch-Andrae zufolge der festen Überzeugung, dass ihr Mann wegen der brutalen Vorgehensweise, Attacken und Anfeindungen der Nationalsozialisten erkrankt und verstorben ist.
Kerbs Tochter, Dr. Ruth Kerb, hat dem Familienwerk ihren Besitz vererbt und den Wunsch geäußert, ein Kinderheim zu schaffen. „Das bewegt mich besonders. Die Tochter hat den Wunsch am Ende noch verwirklicht“, sagt Bensch-Andrae. Denn heute leben 18 Kinder und ein Jugendlicher in der Einrichtung. Heiner Koch scheint gerührt: „Das hätten wir ohne ihre Spende und ihr späteres Vermächtnis nicht geschafft.“ Auch die OVB-Leser haben das Kinderheim durch die Weihnachtsspendenaktion 2012 unterstützt.
In den Tod getrieben
Heiner Koch gibt das Mikrofon an Dr. Thomas Nowotny weiter. Auch er engagiert sich für die Initiative Erinnerungskultur Rosenheim - und ist entfernt mit der Familie Spiegelberg verwandt. „Leider haben wir von Erich Spiegelberg nur ein Passfoto, das von einem hässlichen Hakenkreuz-Stempel verunstaltet ist“, sagt Nowotny. Und ergänzt: „Heute ist der Internationale Tag gegen Rassismus. Der richtige Tag, um an zwei Männer zu erinnern, die unter den rassistischen und antisemitischen Taten der Nationalsozialisten leiden mussten und dadurch letztlich in den Tod getrieben wurden.“
Dr. Erich Ephraim Spiegelberg wurde am 29. September 1877 in Hannover geboren. Nach dem Medizinstudium in München promovierte er in Straßburg. Von 1908 bis 1909 diente er als Sanitätsoffizier in der Bayrischen Armee. Nach dem Studium zog Spiegelberg nach Berlin und heiratete Luisa Schirmer. Sie bekamen eine Tochter - Maja.
Von Berlin nach Pinswang
„Die Nazis übten Druck auf Mischehen aus, die Paare sollten sich wieder trennen“, sagt Nowotny. Und so beantragte Luise Spiegelberg Mitte der 1930er Jahre die Scheidung. Erich Spiegelberg betrieb seine Praxis in Berlin und zog im Juni 1938 in den Rosenhof nach Pinswang. Nowotny vermutet, dass Spiegelberg Dr. Kerb aus Berlin gekannt hat und das Kinderheim als Arzt unterstützen wollte - was sich aufgrund der Attacken der Nationalsozialisten als unmöglich herausgestellt habe.
Wenige Monate später, im September, zog Spiegelberg in eine Münchener Pension. Ihm wurde seine Approbation entzogen und er sah seine Tochter Maja ein letztes Mal, bevor sie nach Amerika geflüchtet ist. In München musste Spiegelberg Nowotny zufolge die Pogromnacht miterleben, wurde aber nicht wie viele seiner Leidensgenossen nach Dachau verschleppt. Der ehemalige Arzt hat laut Nowotny nur noch einen Ausweg gesehen: Sein Leben zu beenden. Am 11. Juli 1939 vergiftete sich Dr. Erich Ephraim Spiegelberg in München.
Der Hass stirbt nicht aus
Wenn es nach Thomas Nowotny geht, sollte niemand mehr so ein Schicksal erfahren. Vor zwei Wochen sei er im Heim in Pinswang gewesen und ein Kind habe ihn gefragt, ob es heute noch Nazis gibt. „Und ich musste sagen: Leider ja.“ Zwar seien die Täter von damals fast alle gestorben, aber Menschenfeindlichkeit und Hass sterben nicht aus. Dagegen anzugehen, sei eine wichtige Aufgabe für alle. Auch die Stolpersteine trügen dazu bei.
Vor 25 Jahren hat Gunter Demnig angefangen, die Steine zu verlegen, um an verfolgte Juden zu erinnern. Nun gibt es bereits in 31 Ländern Stolpersteine. Im April oder Mai wird Demnig die 100.000 Messingtafel verlegen. „Neubeuern ist nun auch Teil dieses großen dezentralen Denkmals“, sagt der Neubeuerer Bürgermeister Christoph Schneider.
Doch es geht nicht nur um die Vergangenheit und die Erinnerung, sondern auch um die Zukunft. Heiner Koch betont: „Wir wollen uns für eine Welt einsetzen, in der jeder Mensch unabhängig von seiner Herkunft, seiner Religion oder seiner politischen Überzeugung sowie sexuellen Orientierung frei und sicher leben kann.“




