Die Sehnsucht nach Normalität
Fußball in Kriegszeiten: Wie Ukrainer aus der Region „ihr“ EM-Spiel in München erlebten
Über zwei Jahre Krieg in der Heimat, keine planbare Zukunft, Angst um Freunde und Familie: Die Ukrainer sehnen sich nach Normalität. Im Fußballstadion bekommen sie dieses Gefühl für zwei Stunden. Was Fußball mit Hoffnung zu tun hat.
Bad Aibling/München – Wolodymyr Hlazun (32) ist Fußball-Fan von Kindesbeinen an. Als er groß war, hat er in seinem Heimatdorf in der Nordost-Ukraine einen eigenen Fußballverein gegründet. Einen, der die „Hoffnung“ im Namen trägt: den FC Nadiya – das ukrainische Wort für Hoffnung. Das ist viele Jahre her.
Zurzeit ist „Wowa“ – so nennen ihn alle – für einige Wochen in Bad Aibling. Am Tag des ersten EM-Gruppenspiels der Ukrainer gegen Rumänien (17. Juni) fahren wir zusammen mit Nazar Sadoroschny und Katharina Horban in die Fröttmaninger Arena. Katharina ist Chirurgin an der Aiblinger Romed-Klinik. Nazar baut als Anlagenmechaniker Heizungen, Solaranlagen und Wärmepumpen in die Häuser im Mangfalltal ein. Beide stammen aus Lwiw in der Westukraine, leben aber schon seit 2012 in Deutschland.
Rumänische Anhänger stark in der Überzahl
Für die drei ist der EM-Auftritt ihres Teams – direkt um die Ecke – etwas ganz Besonderes. Ihnen geht das Herz auf, als sie in der ukrainischen Kurve die Fangesänge mit anstimmen. Die Kurve bringt ihre Verbundenheit mit den ukrainischen Streitkräften zum Ausdruck. Kurz nach Spielbeginn stimmen selbst die rumänischen Fans, zahlenmäßig weit in der Überzahl, Solidaritätsbekundungen für die Ukraine an.
„Das Schöne am Fußball ist, dass er es vermag, eine Nation für einen Tag glücklich zu machen“, sagt Wowa. Damit hat es am Montag (17. Juni) am Ende zwar nicht ganz geklappt: Die Arena blieb auf dem Feld wie auf den Rängen fest in rumänischer Hand. Rumänien ging mit 3:0 als klarer Sieger vom Platz. „Aber wir haben ja noch zwei Spiele“, gibt Wowa die Hoffnung nicht auf.
Welche Hoffnung haben Nazar und Katharina für die Zukunft? „Dass der Krieg vorbeigeht und die Ukraine in ihren Grenzen erhalten bleibt“, sagt Katharina. Sie möchte, dass sich ihre Kinder hier wie dort glücklich fühlen können. Daran ist im Moment nicht zu denken. „Ukraine und Deutschland haben unterschiedliche Stärken, die sich ausgezeichnet ergänzen könnten“, sagt die Ärztin. Ihre drei Söhne sind acht, fünf und drei Jahre alt.
Die Mär von der „gespaltenen“ Nation
Als bei der vorherigen Europameisterschaft der Stürmer Artem Dovbyk die Ukrainer mit seinem Tor ins Viertelfinale schoss, drangen auch im besetzten Luhansk die Jubelschreie aus den Häusern nach draußen, erfuhr Wowa später von einem Bekannten. Die Mär von der angeblich „gespaltenen“ Nation hat in dieser Form sowieso nie der Realität entsprochen.
Sechs Wochen unter russischer Besatzung gelebt
Wowas Heimatdorf liegt in der Nähe der Stadt Bilopillja, die zehn Kilometer entfernt von der russischen Grenze in der Region Sumy liegt. Nach Russlands Überfall im Februar 2022 war das Gebiet eineinhalb Monate von russischen Truppen besetzt. Wowa war mit seiner Frau und dem damals zweijährigen Sohn Maksym während dieser Zeit eingeschlossen. Im Norden die russische Grenze – in allen anderen Himmelsrichtungen tobten die Kämpfe. Für ihn war das die schrecklichste Zeit seines Lebens.
Heimat-Region unter Dauerbeschuss
Später zogen sich die Russen zurück. Aber die Bomben flogen weiter. Seit fast zwei Jahren ist der Grenzstreifen hinter Bilopillja unter Dauerbeschuss. Mit vielen Toten und Verletzten. In diesem Frühjahr wurden weite Teile der Region evakuiert.
Im nahen Sumy führt Wowa seit längerem eine Digitalagentur, die sich um App-Entwicklung und Website-Erstellung für Kunden aus ganz Europa und Nordamerika kümmert. Seit Ausbruch des Krieges sind seine Mitarbeiter aber in der ganzen Welt zerstreut.
Ein normales Leben für die Familie – das ist genug
Welche Hoffnung hat Wolodymyr für seine Zukunft? „Natürlich die, dass der Krieg endet. Aber der Aufbau des Landes wird sehr lange dauern. Meine Hoffnung ist, dass ich und meine Familie ein normales Leben führen können. Das ist genug!“
Die Frage, ob die Ukraine bei der EM doch noch ins Achtelfinale kommt, ist da völlig zweitrangig.




