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„Wenn niemand dahinter ist, passiert gar nichts“

Bayern „komplett barrierefrei“? So sieht es in der Region Wasserburg aus

Bayern soll bis 2023 im gesamten öffentlichen Raum und im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) barrierefrei werden.
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Bayern soll bis 2023 im gesamten öffentlichen Raum und im Öffentlichen Personennahverkehr barrierefrei werden.

Bayern soll bis 2023 barrierefrei werden: Das hat der ehemalige Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer vor zehn Jahren verlauten lassen. Wie sieht es aus im Wasserburger Land?

Wasserburg/Rott/Amerang - Der damalige Bayerische Ministerpräsident, Horst Seehofer, hat 2013 in seiner Regierungserklärung als Ziel vorgegeben: Der Freistaat soll bis 2023 im gesamten öffentlichen Raum und im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) barrierefrei werden. Zehn Jahre später: Wie sieht es im Wasserburger Land aus?

Doreen Bogram, Mitglied des Wasserburger Behindertenbeirats, sieht in den vergangenen zehn Jahren keine große Änderung des Bewusstseins in der Bevölkerung für Barrierefreiheit. Aber sie weiß auch: „Jeder, der persönlich betroffen ist, bekommt einen anderen Blick dafür.“ Sie habe eine 90-jährige Schwiegermutter, die mit dem Rollator durch Wasserburg laufe und sei selbst durch eine körperliche Behinderung „phasenweise schlecht zu Fuß“.

Doreen Bogram und Ingo Hesse vom Behindertenbeirat beim neuen Großklinikum in Wasserburg. Das Gremium beanstandet seit langem, dass es auf dem Gelände an einigen Stellen an der Barrierefreiheit hapert.

Außerdem sieht sie ein weiteres Dilemma: „Was bedeutet überhaupt Barrierefreiheit?“ Dieser Begriff sei für sie nicht klar definiert. „Es heißt, dass ich überall ‚barrierefrei‘ hinkomme. Aber erst, wenn ich auf einmal keine Treppen mehr steigen kann, wird einem bewusst, dass ich beim Hausbau darauf achten muss“, erklärt sie. Ein weiteres Beispiel: Absenkungen im Bordstein. „Es muss genügende geben für Leute im Rollstuhl, Bürger mit Rollator oder Eltern mit Kinderwagen. Es geht ja nicht immer nur darum, ob jemand gehbehindert ist“, verdeutlicht sie. So habe der Behindertenbeirat schon Erfolge verbuchen können, beispielsweise in der Ledererzeile. Dort habe das Gremium mehrere Absenkungen im Bordstein durchgesetzt. „Ich bin seit zwei Jahren im Beirat und muss schon sagen, dass die Stadt Wasserburg sämtliche Verbesserungsvorschläge schnell angenommen hat“, sagt Bogram.

Andere für Thematik sensibilisieren

Auch Richard Helm, Behindertenbeauftragter der Gemeinde Rott, betont, dass die Kommune für Ideen zur Verbesserung der Wege stets offen ist. Doch er weiß auch, dass es teilweise „sehr zäh“ vorangehe. „Man braucht einen langen Atem“, sagt Helm. Seit 2019 hat er das Amt des Behindertenbeauftragten inne. Seitdem setzt er sich für mehr Barrierefreiheit ein, versucht andere dafür zu sensibilisieren und spricht mit den Gemeindemitgliedern, die - wie Helm auch - schwer zu Fuß sind. „Die meisten gehen über jede Schwelle, ohne darüber nachzudenken. Das ist wird einem erst bewusst, wenn es nicht mehr geht“, weiß er aus Erfahrung. „Bei mir war das Gehen wegen eines Risses des oberen Aortenbogens für lange Zeit vorbei. Das ist jetzt über sieben Jahre her“, erzählt Helm. Mit großer Willensstärke erkämpfte er sich den Weg aus dem Rollstuhl, ist aber seitdem auf Rollator oder Gehstock angewiesen.

Richard Helm (Mitte) ist Behindertenbeauftragter der Gemeinde Rott und setzt sich für Barrierefreiheit und Inklusion ein.

Nach der langen Genesungszeit nahm er seine Arbeit als Behindertenbeauftragter auf und konnte bisher schon einige Erfolge verbuchen: Auf der Nordseite des Rotter Friedhofs seien die Schwellen am Abgang geebnet und ein Geländer angebracht worden. Weiter setzt er sich für Sitzgelegenheiten im gesamten Gemeindebereich ein. „Da bin ich bestimmt schon drei Jahre dahinter“, berichtet er. „Ich will nicht nur Bänke im Ortskern, sondern in der ganzen Kommune“. Dafür habe er einen Übersichtsplan angefertigt, der zeige, wo die Sitzgelegenheiten stehen sollten. „Früher habe ich meine Spaziergänge koordiniert, sodass ich immer wieder pausieren konnte. Das geht vielen Bürgern mit Einschränkungen sicher genauso“, erklärt er sein Vorhaben. „Nur mit Diplomatie, Überzeugungskraft, Beharrlichkeit und offener Kommunikation gelingt es, die Kommune barrierefrei zu machen. Auch wenn der Weg dahin mühsam ist“, verdeutlicht er. Doch für Helm steht fest: „Wenn niemand dahinter ist, passiert gar nichts.“

Anja Rosengart, Beauftragte für Inklusion und Menschen mit Behinderung in der Gemeinde Amerang, spricht bestenfalls von „barrierearm“. „Völlige Barrierefreiheit ist wohl nicht erreichbar“, meint sie. Seit 2017 ist sie Beauftrage für Inklusion in der Gemeinde, hat in der eigenen Familie „einen entsprechenden Hintergrund“.

Pragmatischer Ansatz

Sie findet, dass es einen „pragmatischen Ansatz“ braucht, um das Leben für alle inklusiv zu machen. „Barrierefreiheit ist ja nur ein Teil des Ganzen. Es gibt viele Aspekte. Inklusion beginnt zu allererst im Kopf. Das fängt schon bei Vorträgen an: Wie stehen die Stühle, damit möglichst alle etwas sehen und gut hören können? Passt die Beleuchtung? Gibt es ein Mikrofon für den Redner?“, erklärt sie. „Viele kommen nicht zu Veranstaltungen, weil sie nicht gut hören. Auch im Kino oder im Wirtshaus oft ein großes Problem - gerade wenn sich viele unterhalten“, verdeutlicht die Beauftragte.

Anja Rosengart, Beauftragte für Inklusion und Menschen mit Behinderung in der Gemeinde Amerang.

Ein weiteres Beispiel: elektrische Rollstühle. „Zu groß für den Lift, zu schwer zu tragen“, sagt Rosengart. „Kein Spaß, wenn Sie kein Hotelzimmer finden, das im Erdgeschoss ist.“ Die Knöpfe im Aufzug seien nicht immer in Hüfthöhe und für Rollstuhlfahrer unerreichbar, „übrigens auch für Kinder“, betont Rosengart.

Darüber hinaus sei die Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs ein schwieriges Unterfangen, nicht nur für gehbehinderte Bürger, auch für Analphabeten oder Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung: „Die Durchsagen am Bahngleis sind unverständlich, im Zug gibt es oftmals keine Hinweise auf weitere Anschlüsse. Es gibt keine Symbole oder Schilder mit leichter Sprache. Das verstehe ich nicht“, sagt sie. Für Rosengart stellt sich grundsätzlich die Frage: „Anstatt sich immer nur auf einzelne Personengruppen zu konzentrieren, sollten Schnittmengen gesucht werden, von denen möglichst viele profitieren“, meint sie.

Mit der Zusammenarbeit der Gemeinde Amerang zeigt sie sich zufrieden, die Kommune habe „grundsätzlich ein offenes Ohr“ für die Anliegen der Inklusionsbeauftragten. Sie teilt aber die Meinung des Rotter Behindertenbeauftragten Richard Helm: „Wenn niemand dahinter ist, passiert gar nichts.“

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