Untersuchung im Ganglabor hilft Patienten
Zwei-Klassen-Medizin bei Kindern? Arzt der Aschauer Ortho-Klinik kämpft für Kostenübernahme
Eine Ganganalyse kann vielen Menschen helfen. Etwa Personen mit Bewegungsstörungen und Muskelsteife. Dennoch übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für die Untersuchung nicht. Entsteht dadurch eine Zwei-Klassen-Medizin? Ein Arzt der Aschauer Kinderklinik engagiert sich für die Kleinsten.
Aschau im Chiemgau – Was ist medizinisch notwendig? Darüber sind sich Ärzte und Krankenkassen oft uneinig. Ein Beispiel: Die dreidimensionale instrumentelle Ganganalyse. Bei dieser Methode untersuchen Experten den Gang und die Fuß-Belastung ihrer Patienten – auf einem Laufsteg mit Infrarot-Kameras und Druckmessplatte. Befürworter bezeichnen die Untersuchung als sinnvoll. Die Krankenkassen als nicht notwendig. Deshalb müssen gesetzlich Versicherte die Kosten selbst tragen.
Dabei ist es wichtig, bei Schmerzen früh zu handeln. Davon ist Prof. Dr. Harald Böhm von der Orthopädischen Kinderklinik in Aschau im Chiemgau überzeugt. Laut dem Arzt haben die gesetzlichen Krankenkasse die Kosten für die Untersuchung bei stationären Aufenthalten bis 2022 übernommen. Nun müssten Patienten rund 300 Euro bezahlen. Seitdem kommen weniger Kinder und Jugendliche ins Ganglabor.
Bessere Planung von Operationen
Das ist ein Problem, findet Böhm. Denn durch die Untersuchung werde den Patienten die beste Behandlung ermöglicht. Im Gegensatz zu Röntgenaufnahmen entsteht kein Standbild, die Bewegung wird stattdessen dokumentiert. Böhm zufolge können Ärzte Operationen dadurch zuverlässiger planen oder deren Erfolg besser bewerten. Ob an Hüfte, Oberschenkel oder Fuß.
„Die Krankenkasse sollte die Kosten übernehmen, auch für ambulante Behandlungen“, sagt Harald Böhm. Denn 300 Euro könne sich nicht jeder leisten. Vor allem, weil es nicht bei dieser Summe bleibe. Die Patienten der Klinik kommen aus ganz Europa. Viele Familien müssten eine Unterkunft und die Anreise zahlen. Das summiere sich auf 2000 bis 3000 Euro.
Auch Dr. Felix Stief kennt das Problem. Er ist Vorsitzender der Gesellschaft für die Analyse Menschlicher Motorik und ihre klinische Anwendung (GAMMA). Böhm ist der zweite Vorsitzende der Gesellschaft. Die beiden Wissenschaftler setzen sich dafür ein, dass die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für die Ganganalyse übernehmen.
Ohne OP keine Untersuchung
Aktuell ist die Ganganalyse eine individuelle Gesundheitsleistung (IGeL), die als nicht medizinisch notwendig gilt. Das teilt AOK-Sprecher Andreas Schneider auf Anfrage mit. Auf der AOK-Webseite werden als solche Leistungen beispielweise Reisemedizin, Naturheilverfahren und Anti-Aging-Behandlungen gelistet.
Die Kosten belaufen sich laut dem Sprecher je nach Umfang auf mehrere hundert Euro. Die Summe übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen nur in bestimmten Fällen. Etwa während einer medizinisch notwendigen voll-stationären Behandlung mit Operation im Krankenhaus. Das heißt: ohne OP, keine Ganganalyse. Nach Angaben von Stief und Böhm ist die Untersuchung aber sinnvoll zur Planung einer Operation, die erfolgt meist Wochen zuvor.
Die E-Mail des AOK-Sprechers fällt kurz aus. Viele Fragen beantwortet er nicht. Etwa die, warum die Kosten nicht übernommen werden. Ob die AOK plant, das in Zukunft zu ändern. Oder wie er die Problematik einer Zwei-Klassen-Medizin beurteilt. Denn einige der privaten Kassen übernehmen die Kosten.
Dazu hat Felix Stief eine klare Meinung: Es sei nicht vertretbar, dass die Patienten die Kosten selbst tragen müssen, nur weil die Kassen noch nicht erkannt hätten, wie wichtig die Untersuchung ist. Dass die Ganganalyse eine individuelle Gesundheitsleistung ist, kann Stief nicht nachvollziehen.
Ein runder Tisch als Lösung?
Doch medizinisch notwendig und medizinisch sinnvoll, das ist ein Unterschied, sagt Stefan Schmitt. Als Geschäftsführer der Aschauer Kinderklinik wünsche er sich natürlich, dass die Kosten für die Ganganalyse übernommen werden. Er habe jedoch keine Macht darüber: „Letzten Endes können wir das nicht beeinflussen.“ Krankenhäuser und Kassen verhandeln jedoch durchaus, ob über das Jahresbudget oder Leistungen.
Damit sich etwas ändert, wünscht sich Felix Stief einen runden Tisch. An diesem sollten Vertreter verschiedener Kliniken, Krankenkassen und medizinischer Fachverbände, Wissenschaftler, Bewegungsanalytiker sowie Ärzte Platz nehmen. Um alle Parteien zu überzeugen, engagieren sich die Mitarbeiter der GAMMA-Gesellschaft. Sie haben eine Umfrage im deutschsprachigen Raum gestartet. Erhoben werden Klinik-Standorte, Ablauf der Untersuchung, Kosten und Abrechnung. Mit den Ergebnissen wollen Stief, Böhm und ihre Kollegen einen Standard definieren. Und ihrem Ziel so einen Schritt näher kommen.
„Wir sind nicht bei Null“, sagt Stief. Über die berufsgenossenschaftlichen Kassen könnten die Kosten bereits abgerechnet werden. Ebenso über private Kassen. „Wir sind dabei, noch mehr Überzeugungsarbeit zu leisten, damit das irgendwann wie ein normales Röntgenbild bei bestimmten Fragestellungen abgerechnet wird.“
Dem Vorsitzenden zufolge haben Wissenschaftler über Jahre hinweg eine gute Studienlage geschaffen. Mit dem Ergebnis, dass die Patienten von der Ganganalyse profitieren. „Das muss auch bei den Ärzten und Krankenkassen ankommen“, sagt der GAMMA-Vorsitzende. Aktuell gebe es noch zu wenige Personen, die das Thema vorantreiben.
„Das ist ein Teufelskreislauf“
Auch, weil die Kosten noch nicht abgerechnet werden können. „Das ist ein Teufelskreislauf“, bedauert Stief. Wenn die Ganganalyse bereits eine Kassen-Leistung wäre, würden die Klinikdirektoren laut dem Experten sagen: Das lohnt sich, dafür können sich die Ärzte Zeit nehmen. Das sei im Moment nicht der Fall. Im Klinikalltag fehle oft die Zeit.
Laut Harald Böhm gibt es noch einen weiteren Grund: „Ein Ganglabor ist keine Gelddruckmaschine“. Die Kinderorthopädie werde in Deutschland von der Unfallchirurgie geschluckt. Die sei viel lukrativer. Mit einer Operation an der Hüfte könnten Krankenhäuser 5000 Euro in der Stunde verdienen. In der Orthopädie sei das nicht möglich. „Für die Kinder wird deshalb nicht so viel gemacht“, sagt der Arzt. Deshalb brauche es Menschen, die sich für die Kleinsten einsetzen.