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Bergblick statt Bildschirm in Bischofswiesen

Wie Deutschlands erste Reha-Klinik für Mediensucht Teenager zurück ins echte Leben begleitet

Die Klinik Schönsicht ist für ihre Therapie von adipösen Patienten bekannt. Künftig kommen hier auch Smartphone-abhängige und Computerspiel-süchtige Jugendliche unter.
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Die Klinik Schönsicht ist für ihre Therapie von adipösen Patienten bekannt. Künftig kommen hier auch Smartphone-abhängige und Computerspiel-süchtige Jugendliche unter.

Chefarzt Dr. Erik Winand Kolfenbach kämpft in der Reha-Klinik Schönsicht in Bischofswiesen mit seinem Team gegen eine unsichtbare Epidemie – die Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen. „Die Digitalisierung hat unsere Welt zwar revolutioniert, aber sie birgt Risiken, die wir nicht ignorieren dürfen“, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater.

Berchtesgaden/Bischofswiesen – Er weiß, warum die Pandemie das Problem als Brandbeschleuniger verschärfte, wie Betroffene zurück ins Leben finden – und weshalb ein Smartphone-Entzug allein nicht die Lösung ist.

In der Reha-Klinik Schönsicht bereitet man sich auf ein Pilotprojekt vor, das deutschlandweit für Aufsehen sorgen könnte: Erstmals feilt man an einem speziellen Konzept für internet- und medienabhängige Jugendliche, das wissenschaftlich begleitet wird. Hinter dem vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geförderten Projekt, das zusätzlich durch das Bundesprogramm rehapro unterstützt wird, stehen die Deutsche Rentenversicherung, die Charité Berlin und das Team um Chefarzt Kolfenbach – der ursprünglich aus Bonn stammt, in Passau sein Abitur machte, lange Jahre in der Regelpsychiatrie arbeitete und nun sein neues Zuhause im Talkessel von Berchtesgaden gefunden hat. Umgeben von all den Berggipfeln fühlt er sich besonders wohl, sagt er.    

Reha-Klinik Schönsicht in Bischofswiesen: Mediensucht nimmt zu

„Kinder und Jugendliche verbringen immer mehr Zeit am Bildschirm – ob mit Smartphone, Social Media oder Computer.“ In einem Stapel Papier hat Kolfenbach die neuesten Erkenntnisse zur Mediensucht zusammengetragen. Laut aktuellen Studien kommen Teenager in Deutschland auf mehr als vier Stunden digitale Mediennutzung pro Tag - im Durchschnitt. Die Entwicklung ist besorgniserregend. Das Smartphone spielt dabei eine zentrale Rolle. Etwa 70 Prozent der Jugendlichen im Alter von zwölf bis 17 Jahren spielen regelmäßig Video- und Computerspiele. Drei bis 5 Prozent der Jugendlichen sind „von einer klinisch relevanten Mediensucht“ betroffen. Manche träumen davon, Influencer oder Profi-Gamer zu werden – und verlieren dabei den Bezug zur Realität, weiß Kolfenbach.

Jedoch: „Nicht jede intensive Nutzung ist automatisch eine Abhängigkeit“, beschwichtigt der Psychiater. Erst wenn sich klare Suchtmuster zeigen – wie etwa die Vernachlässigung sozialer Kontakte, ein Verlust an Interessen oder sogar aggressives Verhalten beim Versuch, die Medienzeit zu reduzieren – wird es kritisch. Fakt ist aber auch: Eine unbehandelte Mediensucht kann zu ernsthaften Folgen führen, sowohl auf sozialer als auch auf schulischer Ebene.  

Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Erik Kolfenbach ist der Chefarzt und künftig verantwortlich für ein deutschlandweites Pilotprojekt zur Medienabhängigkeit.

Im anstehenden Pilotprojekt werden zunächst zwölf Jugendliche für jeweils sechs Wochen stationär in der Klinik aufgenommen. Ausgewählt wurden diese von Experten der Charité Berlin, die eng mit der Reha-Einrichtung am Fuße des Watzmanns zusammenarbeiten. Absolutes Smartphone-Verbot herrscht hier übrigens nicht. Ziel sei vielmehr das Erlernen eines verantwortungsvollen Umgangs - keine völlige Abstinenz von Handy oder Computer. „Totalverzicht ist in unserer durchdigitalisierten Welt kaum noch realistisch und kontraproduktiv“, betont der Wahl-Berchtesgadener. 

Patienten sollen neue Interessen entdecken

Stattdessen soll die Teilabstinenz im Mittelpunkt des Klinikalltags stehen: Die jungen Patienten bekommen täglich begrenzte Medienzeiten, sollen aber zugleich neue Interessen entdecken – etwa durch Kunst- oder Ergotherapie, tiergestützte Angebote oder sportliche Aktivitäten in der Natur. „Hier in den Bergen lernen sie, wieder mehr wahrzunehmen: den Ausblick, die frische Luft, die ständige Veränderung in der Natur – all das, was beim stundenlangen Starren auf den Bildschirm nicht möglich ist“, so Kolfenbach.

Gerade die Zeit der Corona-Pandemie hat viele Probleme verschärft, weiß der Experte. Die Schule fiel aus und fand maximal noch digital statt. Zudem gab es kaum direkte Kontakte unter Gleichaltrigen. Während manche Jugendliche die Umstände gut bewältigen konnten, blieb für andere der Rückzug in die digitale Welt der einzige vermeintliche Ausweg. „Vor allem Kinder aus sozial schwächeren Familien waren betroffen“, weiß der Chefarzt. Es geht um die Konsequenzen: Verlust von Freunden, Streit in der Familie, Toleranzentwicklung.

Die Entwicklung hat psychische Erkrankungen verstärkt, teilweise gar erst ausgelöst – darunter Sozialphobien, Depressionen und Angststörungen. Wem es ohnehin schwerfiel, auf Leute zuzugehen, der kam mit der Ausgangslage in pandemischen Zeiten besonders schlecht zurecht. „Wenn man die gefürchteten Situationen erst gar nicht mehr hat, lernt man auch nicht, damit umzugehen“, sagt Erik Winand Kolfenbach. In der Folge gingen manche Kinder nach den Lockdowns nicht mehr zur Schule. Rückzugsverhalten konnte über längere Zeiträume regelrecht erprobt und schließlich übernommen werden – etwa durch familiäre Vorbilder.  

Keine Smartphone-Nutzung in der Klinik: Über Bildschirme werden junge Patienten darauf hingewiesen.

Die Reha-Klinik Schönsicht versucht mit ihrem Vorstoß jenes neue Feld zu beackern, das erst in Folge von TikTok und Co. und der immer früheren Smartphone-Nutzung Einzug hielt und seitdem massive Auswirkungen auf Deutschlands Jugend mit sich bringt. Die Wurzeln der Klinik am Oberkälberstein sind indes andere: Es gibt ein vielfältiges Spektrum an psychischen und psychosomatischen Störungen – von ADHS, Essstörungen wie Adipositas bis hin zum Asthma-Leiden oder Jugendlichen mit bindungs- oder entwicklungsbedingten Störungen. Der Großteil der Patientenschaft ist älter als sechs Jahre und häufig von psychischen Problemen betroffen. „Mit Einsetzen der Pubertät beobachten wir dann vermehrt depressive Symptome“, sagt Kolfenbach. 

Ganzheitlicher Ansatz

Dabei betont der Chefarzt, dass die Klinik in erster Linie eine Reha-Einrichtung ist: „Wir stabilisieren langfristig und führen keine akute Krisenintervention durch.“ Dennoch gibt es auch hier Totalverweigerer, die mit der Therapie nicht in Einklang zu bringen sind. Erst kürzlich musste ein Mädchen nach Hause geschickt werden. Die Jugendliche kam mit der eingeschränkten Handynutzung nicht zurecht und reagierte massiv aggressiv. Laut Kolfenbach sei es wichtig, ein ganzheitliches Konzept zu verfolgen, das sowohl somatische als auch psychische Faktoren berücksichtigt. Die Wartelisten sind lang, bis zu acht Monate, weiß Klinikleiterin Iris Edenhofer. Kinderarztpraxen und regelpsychiatrische Einrichtungen in Deutschland seien oft überlastet, sagt Kolfenbach aus eigener Erfahrung. Zudem sei die Anzahl an vergleichbaren Reha-Einrichtungen durchaus überschaubar, so beschreibt er die Situation. 

Damit eine Behandlung nachhaltig wirkt, werden Eltern in der Klinik eng eingebunden. „Sie sind bei uns Co-Therapeuten“, sagt Kolfenbach. Gerade bei Kindern mit ADHS muss im Alltag konsequent gehandelt werden. Dasselbe gilt für eine Esssucht, aber auch im Umgang mit elektronischen Endgeräten. Ein klarer Tagesablauf, eindeutige Regeln und nur ein verfolgtes Ziel - das sind wesentliche Bausteine. Ähnliche Vorgehensweisen gelten auch für Angststörungen: Bei Trennungsängsten zum Beispiel lernen Kinder schrittweise, sich mit dem Angst auslösenden Reiz auseinanderzusetzen. Das klappt in Form einer Angsthierarchie – von ersten kleinen Schritten bis hin zur allmählichen Konfrontation.

Neben psychotherapeutischen Gesprächen oder kognitiver Verhaltenstherapie kommen in der Klinik unter anderem Kunsttherapie, Ergotherapie und Sportangebote zum Einsatz. Zusätzlich gibt es eine eigene Klinikschule, in der Kernfächer unterrichtet werden, sodass die schulische Entwicklung während des Aufenthalts nicht brachliegt. „Uns ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen möglichst normal weiterlernen können.“ 

Chefarzt: Wollen neue Wege aufzeigen

Nach dem Reha-Aufenthalt sollen die Jugendlichen wieder mehr Teilhabe am Leben haben – das ist das selbst erklärte Ziel des Chefarztes. In Hinblick auf Smartphone-Süchtige sagt er: „Es geht nicht darum, Jugendlichen alles abzunehmen. Wir wollen aber neue Wege aufzeigen und Motivation schaffen, an anderen Dingen Interesse zu finden.“ Erfolge in anderen Bereichen gibt es durchaus: Bei Adipositas-Patienten kann ein längerer Aufenthalt – von bis zu einem halben Jahr – helfen, neue Essgewohnheiten zu festigen und die Freude an Bewegung zu entdecken.

Rückfälle in alte Strukturen gibt es trotz allem: „Natürlich ist das Zuhause eine ganz andere Umgebung, und der ‘Jojo-Effekt’ kann wieder auftreten. Darum beziehen wir die Eltern mit ein“, sagt Erik Winand Kolfenbach. Beratungs- und Therapieangebote nach Abschluss der Reha sollen unterstützend wirken beim ganzheitlichen Angebot. 

Chancen und Risiken der Digitalisierung

Ob digitale Medien, Sport oder Ernährung: Kinder- und Jugendpsychiater Kolfenbach sieht in allen Lebensbereichen Chancen und Risiken. „Digitalisierung ist per se nichts Schlechtes. Sie hat aber ihre Tücken. Ähnlich wie beim Feuer: Das wärmt und hilft - doch man kann sich auch verbrennen.“ Umso wichtiger sei es, Kindern frühzeitig den Umgang beizubringen – anstatt die Nutzung des Smartphones einfach nur zu verbieten oder die Kinder damit komplett allein zu lassen.

Gerade beim neuen Computer- und Medienabhängigkeits-Konzept erwartet der Chefarzt allerdings auch Widerstände. Denn neben dem Fachkräftemangel im Kinder- und Jugendpsychiatrie-Bereich könnten Fragen über die endgültige Einstufung als Krankheit und deren Kostenübernahme für die Reha eine Rolle spielen. Kolfenbach bleibt zuversichtlich: „Der Bedarf ist da, sonst würde die Rentenversicherung hier nicht mit uns zusammenarbeiten.“

Ihr Heil suchen Jugendliche aus ganz Deutschland am Fuße des Watzmanns. Reha-Einrichtungen sind meistens in Urlaubsregionen angesiedelt. „Allein durch das Hiersein in den Bergen“, meint Kolfenbach, „ergibt sich für die Patienten oft eine ganz andere Perspektive. So wie das Wetter die Bergwelt ständig neu gestaltet, können sich auch Menschen verändern – genau in diese Richtung möchten wir sie hier begleiten.“ kp

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